Braunschweig und die Reformation – regionalgeschichtliche Aspekte

By Gerd Biegel | May 5, 2017

Summary (Gerd Biegel: Braunschweig and the Reformation – Regional Historical Aspects): This essay looks at the early Reformation movement in a small Guelphic principality from a regional historical perspective, with a view to the independent development in the city of Braunschweig. The cities were the actual locations where the spiritiual-clerical impulses which originated from Wittenberg and Luther were taken up most quickly. This „city reformation“ is characterized as a „citizen’s republicanism“ in the transition from the Middle Ages to modernity. Deciding factors in the transmission and dissemination of reformatory ideas were the increasing aphabetization in the cities, printing with its rapid spread of information as well as the concentration of educational institutions. Teachers, professors, predicants and the developing early humanistic educational bourgeoisie (patricians, trades and crafts people) were among the first municipal supporters of Luther’s doctrine. The result was an „embourgeoisement“ oft he church, or more precisely: the Reformation brought with it the communalization of church matters. Even more foundational was the change of municipal communal affairs through the Reformation. Aspects of commerce, law, and life in the „city“ community were expanded through a faith and religious community. Municipal church orders such as in Braunschweig in 1528, Hamburg in 1529, Hannover in 1530, 1533 in Nürnberg, or 1534 in Straßburg became symbols of this change. The impetus for the Reformation in the cities was mostly a bottom-up one, because it was concerned with enhanced participation in the day-to-day political process.
Keywords: municipal reformation, Braunschweig, bottom-up reformation, council order

Резюме (Герд Бигель: Брауншвейг и Реформация – регионально-исторические аспекты): С регионально-исторической точки зрения статья рассматривает ранее реформаторское движение в княжестве Вельфов в отношении самостоятельного развития города Брауншвейг. Города были подлинным местом, в котором быстро подхватывали духовно-церковные импульсы, исходившие из Виттенберга и Лютера. Эта «Городская Реформация» будет именоваться в период переход от Средневековья к Новому времени «буржуазным республиканством». Решающими факторами для передачи и распространения реформаторских идей были возрастающая грамотность в городах, книгопечатание со своей быстрой передачей информации, а также концентрация образовательных учреждений. Учителя, профессора, священники и формировавшаяся ранняя гуманистическая буржуазия (патриции, коммерсанты и ремесленники) относятся к первым городским последователям Лютера. В конце стояло «Обуржуазивание» церкви, точнее: Реформация принесла муниципализацию церковного дела. Еще более основательным было изменение городской общины, вызванное Реформацией. Экономическое, правовое и жизненное сообщество «город» расширилось благодаря религиозной общине. Символом стали городские церковные уставы, как, например, в 1528 году в Брауншвейге, в 1529 году в Гамбурге, в 1530 году в Ганновере, в 1533 году в Нюрнберге или в 1534 году в Страсбурге. Толчок к Реформации в городах, большей частью, приходил снизу, так как речь шла о лучшем участии в повседневной политической жизни.
Ключевые слова: городская Реформация, Брауншвейг, Реформация снизу, решение Совета

Zusammenfassung: Der Essay betrachtet aus regionalgeschichtlicher Sicht die frühreformatorische Bewegung in einem welfischen Kleinfürstentum mit Blick auf die eigenständige Entwicklung in der Stadt Braunschweig. Die Städte waren der eigentliche Schauplatz, auf dem die geistig-kirchlichen Impulse, die von Wittenberg und Luther ausgingen, besonders rasch aufgegriffen wurden. Diese „Stadtreformation“ wird als „Bürgerrepublikanismus“ am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit bezeichnet. Entscheidende Faktoren der Vermittlung und Verbreitung reformatorischer Ideen waren die zunehmende Alphabetisierung in den Städten, der Buchdruck mit seiner schnellen Informationsvermittlung sowie die Konzentration der Bildungsanstalten. Lehrer, Professoren, Praedikanten und das sich entwickelnde frühe humanistische Bildungsbürgertum (Patrizier, Kaufleute, Handwerker) zählten zu den ersten städtischen Anhängern von Luthers Lehre. Am Ende stand eine „Verbürgerlichung“ der Kirche, genauer: die Reformation brachte die Kommunalisierung des Kirchenwesens. Noch weitaus grundlegender war durch die Reformation der Wandel des städtischen Gemeinwesens. Die Wirtschafts-, Rechts- und Lebensgemeinschaft „Stadt“ erweiterte sich“ durch eine Bekenntnis- und Glaubensgemeinschaft. Sinnbild wurden die städtischen Kirchenordnungen wie 1528 in Braunschweig 1529 in Hamburg, 1530 in Hannover, 1533 in Nürnberg oder 1534 in Straßburg. Der Anstoß zur Reformation in den Städten kam meist von unten, denn es ging auch um verbesserte Teilhabe am politischen Tagesgeschäft.
Schlüsselwörter: Stadtreformation, Braunschweig, Reformation von unten, Ratsbeschluss


Mit Martin Luther, Worms, Wartburg oder Wittenberg verbindet man allgemein zentrale Begriffe der Reformation in Deutschland. Kaum jemand kennt dagegen Namen wie Johannes Bugenhagen, Gottschalk Kruse oder Heinrich Lampe, und doch ist ohne deren Wirken jener Ratsbeschluss der Stadt Braunschweig vom 5. September 1528 kaum denkbar, mit dem offiziell in der Stadt die Reformation eingeführt wurde, Braunschweig eine lutherische Stadt wurde. Es war dies ein Schritt, der die Eigenständigkeit der Stadt Braunschweig betonte und sich gleichzeitig gegen die herkömmliche Religionspolitik von Herzog und Kaiser richtete. Im Grunde war es eine Bürgerbewegung, die eine grundlegende Änderung des städtischen Kirchenwesens erzwang. Diese Besonderheit zeigte sich auch darin, dass es sich am 5. September 1528 um eine Entscheidung des Rates der Gesamtstadt gehandelt hat, der die Entwicklung der Kirche letztlich auch im Braunschweiger Land grundlegend bestimmen sollte.

Die Städte waren der eigentliche Schauplatz, auf dem die geistig-kirchlichen Impulse, die von Wittenberg und Luther ausgingen, besonders rasch und begeistert aufgegriffen wurden. Diese „Stadtreformation“ wird auch als „Reformation von unten“ oder als „Bürgerrepublikanismus“ am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit bezeichnet. Im Gegensatz dazu stand die vom Landesherrn bestimmte „Reformation von oben“, wie dies im Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel erst 1568 durch Herzog Julius erfolgte. Entscheidende Faktoren der raschen Vermittlung und Verbreitung reformatorischer Ideen waren die zunehmende Alphabetisierung in den Städten, der Buchdruck mit seiner schnellen Informationsvermittlung sowie die Konzentration der Bildungsanstalten. Lehrer, Professoren, Praedikanten und das sich entwickelnde frühe humanistische Bildungsbürgertum (Patrizier, Kaufleute, Handwerker) zählten zu den ersten städtischen Anhängern von Luthers Lehre. Es war meist keine sozial in sich geschlossene Gruppe, die sich der neuen Lehre zuwendete, sondern alle Schichten der frühneuzeitlichen Stadtbevölkerung waren davon betroffen. Am Ende stand eine „Verbürgerlichung“ der Kirche, genauer: die Reformation brachte die Kommunalisierung des Kirchenwesens. Noch weitaus grundlegender aber war durch die Reformation der Wandel des städtischen Gemeinwesens in seiner Struktur seit der Blütezeit des deutschen Städtewesens im Spätmittelalter. Die Wirtschafts-, Rechts- und Lebensgemeinschaft „Stadt“ erweiterte sich nun – innerhalb eigenständiger kirchlicher Strukturen – durch eine Bekenntnis- und Glaubensgemeinschaft. Sinnbild dafür wurden die städtischen Kirchenordnungen wie 1524 in Magdeburg, 1528 in Braunschweig, 1529 in Hamburg, 1530 in Hannover, 1533 in Nürnberg oder 1534 in Straßburg. Es war stets ein vielfältiger und vielschichtiger Prozess, der sich meist über mehrere Jahre erstreckte, Konflikte nicht aussparte und gelegentlich von den städtischen Obrigkeiten im Sinne einer neu gewonnenen universalen Zuständigkeit zugleich machtpolitisch zur Disziplinierung der Untertanen genutzt wurde. Auffallendes Kennzeichen: der Anstoß zur Reformation in den Städten kam meist von unten, von Zünften, Gemeinheiten oder dem einfachen Klerus aus den Klöstern heraus, denn es ging zugleich um verbesserte Teilhabe am politischen Tagesgeschäft.

In Braunschweig lässt sich bald nach Luthers sog. Thesenanschlag in Wittenberg feststellen, dass seine reformatorische Botschaft vor allem unter Fernhändlern, Kaufleuten und in Handwerkerkreisen verbreitet wurde und Anhänger fand. In aufgeschlossenen Bürgerkreisen fand der neue Glauben schnell Eingang. Dazu zählten Bürger wie der Fernhändler Hans Pelt, der von sich behauptete, alle Schriften Luthers, auch die lateinischen gelesen zu haben. Ferner waren es Bekannte von Pelt, wie der Kaufmann und Brauer Hans Hornburg oder der Zollschreiber Marsilius, der 1523 wegen seiner lutherischen Gesinnung noch der Stadt verwiesen worden war. Es war dies ein typisch privater Kommunikationskreis in der Stadt Braunschweig, der für rasche Ausbreitung der Reformationsideen sorgte, nachdem man bereits in vorreformatorischer Zeit nach einer an der Bibel orientierten Christenfrömmigkeit und vertieften Glaubensgewissheit suchten. Kaufleute, die am wirtschaftlichen Aufschwung partizipierten, scheinen dafür besonders empfänglich gewesen zu sein. Die mit dem Fernhandel gegebenen wirtschaftlichen Möglichkeiten, die oft mit einem hohen Risiko verbunden waren, forderten das Empfinden, dass die traditionelle Vermittlung von religiösen Werten unzulänglich ist. Die Frömmigkeitspraxis wurde hinterfragt, weil man sich nicht sicher war, ob bisherige Zusagen eine Sicherheit boten. Diese Laien waren folglich für neue religiöse Erfahrungen offen.

Ihre Haltung ordnete sich in den breiteren Strom vorreformatorischer Frömmigkeit ein. Sie beschränkte sich indes nicht auf das Suchen des Einzelnen nach der Wahrheit, sondern wurde durch die Kommunikation gefördert, die auf sozialer, beruflicher, bildungsmäßiger und verwandtschaftlicher Verflechtung beruhte. Der Übergang von der vorreformatorischen Christusfrömmigkeit und humanistischen Gelehrsamkeit zum frühreformatorischen Glauben vollzog sich folglich anfangs relativ problemlos.

Wenn nach Luthers Ablasskritik dessen reformatorische Botschaft bei Handwerkern, Kaufleuten und Fernhändlern in Braunschweig ein positives Echo fand, so hatte das frühe Interesse dieser Laien an religiösen Fragen dem vorgearbeitet, und sie hatten schließlich mit Thomas Müntzer einen sachkundigen Berater und kritischen Förderer an ihrer Seite. Die rasche Drucklegung von Luthers Schriften förderte dabei die Verbreitung der reformatorischen Bewegung entscheidend. Das kurzzeitige Wirken des jungen Priesters Thomas Müntzer an St. Michaelis in der Altstadt 1514 muss für die Beurteilung der Braunschweiger Entwicklung größere Berücksichtigung als bisher finden. Vermutlich bildete sich um den jungen Priester seit seinem kurzen Aufenthalt in der Stadt ein weiter Kreis von sympathisierenden Bürgern. Als Müntzer, wohl im Frühjahr 1515, von der Stelle des Altarpriesters an St. Michaelis in die eines Präfekten bzw. Propstes des kleinen Kanonissenstiftes Frose bei Aschersleben wechselte, ließ er seine Pfründe in Braunschweig von einem Stellvertreter verwalten. Er blieb jedoch mit Braunschweig in Verbindung. Braunschweiger Kaufleute ließen nach der Sitte der Zeit ihre Söhne von ihm in Frose unterrichten, wie die Ratsherren und Fernhändler Hans Dammann und Henning Binder. Die Beziehungen zwischen Müntzer und dem Braunschweiger Bürgerkreis waren offenbar nicht nur beruflicher bzw. geschäftlicher Art. Darauf deutet auch die vertraute Art hin, in der sein Freund, der Fernhändler Hans Pelt mit Müntzer brieflich verkehrte.

Zu Braunschweigs vorreformatorischem Sympathisantenkreis gehörte auch der Erfurter Humanist Euricius Cordus, der als Stadtarzt in Braunschweig von 1523 bis 1527 tätig war. Sein Wirken belegt, dass der Einfluss des Humanismus in Braunschweig vor der Reformation bereits deutlich wirksam war. Euricius Cordus hatte am 24. Juni 1524 in einem Brief an seinen Freund Lange, den Reformator Erfurts, berichtet, dass das Wort Gottes in Braunschweig weithin behindert werde: „Geächtet und verprügelt werden, die in dieser Sache auch nur den Mund auftun“. Allerdings gab es auch viel Unmut:

„Täglich wachsen die heimlichen Aufstände gewisser Bürger, die Anstoß nehmen an der allzu gottlosen und allzu strengen Bestrafung der Evangelischen durch die Herrschenden. Verbreitet werden Flugschriften gegen die Priester, und durch das alles erscheint dies wie ein Vorspiel eines zukünftigen Tumultes, wenn Gott es nicht abwenden wird.“ (Biegel, 2016, S. 12-22)

Cordus selbst hatte offen für die Anhänger Luthers Partei genommen und dadurch schwere Anfeindungen in Braunschweig hinnehmen müssen. Er rächte sich mit einer Fülle satirischer Gedichte und ließ an den Braunschweiger Bürgern kein gutes Haar. Enttäuscht darüber, wie wenig das Evangelium bei ihnen galt, und wie wenig sie den ärztlichen Rat, auf Alkohol zu verzichten, befolgten, meinte er in einem seiner Gedichte an den Magister Johann Laffard, man müsse den Braunschweigern das Evangelium und ihre Medizin heimlich beim Brauen in ihre Frühlingsmumme mischen. Rückschläge, insbesondere nach dem Wormser Edikt vom 26. Mai 1521, blieben für die Lutheraner in dieser Zeit allerdings nicht aus, und die unnachgiebige Haltung des Landesherrn, Herzog Heinrich des Jüngeren, stärkte zunächst die Gegenbewegung der Papisten. War die frühreformatorische Bewegung in Braunschweig überwiegend von Bürgern wie Euricius Cordus getragen, so wurden nach 1521 der Mönch Gottschalk Kruse von St. Aegidien sowie Heinrich Lampe von St. Michaelis und andere Prediger und Praedikanten die bestimmenden Personen, wobei deutlich eine soziale Komponente erkennbar war. Das bedeutet, besonders in den armen und abhängigen Kreisen der Kirchendiener wuchs die Zahl der Anhänger der Reformation.

„Wiege der Reformation“ in Braunschweig

Ende 1521 war der Benediktinermönch Gottschalk Kruse aus Wittenberg in sein Heimatkloster St. Aegidien in Braunschweig zurückgekehrt. Mit dem Einverständnis seines Abtes Magister Dietrich Koch begann er mit Lektionen über das Matthäus-Evangelium, und zwar mit wachsendem Erfolg bei der städtischen Geistlichkeit sowie der Bevölkerung der Stadt. Im Allgemeinen verbindet man mit Kruses Wirken den frühesten Beginn der reformatorischen Bewegung in Braunschweig. In der historiographischen Literatur zur Reformation in Braunschweig werden dabei im Allgemeinen drei unterschiedliche Überlieferungen über die Anfänge vertreten. Siegfried Bräuer hat in einem lesenswerten Aufsatz über den „Beginn der Reformation in Braunschweig“ drei Modelle herausgearbeitet, die mit den Jahresdaten 1528, 1527 und 1522 verbunden sind. (Bräuer 1994, S. 85 – 116). Letzteres, das als Kloster-Modell beschrieben wird, bezeichnet dabei den frühesten Termin und wird mehrheitlich favorisiert. Bedenkt man die von Bürgern getragene frühreformatorische Bewegung, so kann man auch ein durch Thomas Müntzer geprägtes Modell nutzen und noch früher datieren. Als vor dem Hintergrund des Wormser Ediktes Herzog Heinrich der Jüngere am 12. Januar 1522 ein gegen die reformatorische Bewegung gerichtetes Edikt erließ, musste Kruse sein Kloster verlassen. Er predigte noch einige Zeit auf lüneburgischem Gebiet in Volkmarode vor den Toren der Stadt Braunschweig und ging schließlich erneut nach Wittenberg. Dort verfasste er die früheste niedersächsische Reformationsschrift „van adams und unsem valle und wedder uperstendinghe“, gewidmet seinem Freund und Gönner Heinrich Reinhusen und bei Hans Dorn in Braunschweig gedruckt, um zu erklären, warum er das Kloster verlassen hatte. Gegen Ende 1522 kehrte Gottschalk Kruse nach St. Aegidien zurück, jedoch nur für kurze Zeit. Hier legte er – unter großem Andrang der Schulmeister und Geistlichen, aber auch vieler Laien – seinen Vorträgen die lutherische Auslegung des Römerbriefes zugrunde. Zugleich predigte er erneut in Volkmarode, wo er mit seinem wegen seines Glaubens der Stadt verwiesenen Freund Hans Hornburg zusammentraf. Aus Kruses Schrift, mit der er sich an alle „Christgelouigen fromen mynschen, beßondern der statt Brunswyk“ wendet, können wir ablesen, wie früh die reformatorische Botschaft in Braunschweig gewirkt hatte. Kruse berichtet nämlich, dass ihm Gott im Jahre 1518, zur Zeit seiner tiefen Glaubenskrise, „eynen man togeschicket/bey nhamen Peter Humelen to Brunswygk wolbekant.“ Hummel habe ihn auf den gelehrten Augustiner Martinus und dessen Ablasssermon hingewiesen. Wie viele andere habe er aber den Sermon verdammt, bevor er ihn gesehen und gelesen habe.

Mit Peter Hummel begegnen wir dabei einem weiteren Mitglied des frühreformatorischen Personenkreises in Braunschweig, der ebenfalls in engem Kontakt zu Thomas Müntzer stand. Zu diesem Kreis zählte auch Hans Hornburg. In der Zeit gemeinsamer Tätigkeit verbreiteten deren hartnäckigsten Gegner das Gerücht, Kruse und Hornburg würden in Volkmarode eine Ketzerschule unterhalten, ständig das Fastengebot brechen und die Benediktinermönche von St. Ägidien weiter mit der neuen Ketzerei beeinflussen. Diese Verleumdungen hinterbrachten die Ankläger Herzog Heinrich der Jüngere und veranlassten ihn als Patron des Klosters in Wolfenbüttel und bekennendem Gegner der Reformation zum Eingreifen. Obwohl das Dorf Volkmarode jenseits der Landesgrenze im Lüneburgischen lag, überfielen herzogliche Reiter den Ort und entführten Hans Hornburg gewaltsam nach Wolfenbüttel, wo er im Kerker landete. Kruse aber war nicht in Volkmarode anwesend, konnte daher dem Überfall entkommen und entschloss sich endgültig Braunschweig zu verlassen. Er hat noch im selben Jahr in Wittenberg seine für die Reformations- und Braunschweiger Stadtgeschichte bedeutsamste Schrift verfaßt, mit der er seine Flucht rechtfertigte: „To allen Christ gelöuigen fromen mynschen beßondern der statt Brunswygk, D. Godschalci Crußen / Worumme hee gheweken wth synem Kloester eyn vnderrichtunghe.“ die er seinen Braunschweigern widmete. Aufgrund der massiven Verfolgung durch den Landesherrn musste Kruse also 1523 erneut fliehen. Er sollte nicht wieder nach Braunschweig zurückkehren. Vielen Historikern gilt aufgrund dieser Ereignisse das Aegidienkloster noch heute „geradezu als Wiege der Reformation“ in Braunschweig. Allerdings dürfte diese Deutung auch auf St. Michaelis, der Wirkungsstätte von Thomas Müntzer, zutreffen.

Nicht zuletzt durch Gottschalk Kruses Schriften wissen wir, dass die reformatorische Bewegung nachweislich große Teile des aufgeschlossenen Bürgertums erfasst hatte. Die Zahl lutherisch gesinnter Prädikanten in der Stadt wuchs ebenfalls. Ihnen kam besondere Bedeutung für die „Reformation von unten“ zu, denn ihre Predigten erreichten auch jene Menschen in der Stadt, die in der Mehrzahl nicht lesen konnten und dies war eine große Anzahl. Der Übergang von vorreformatorischer Christusfrömmigkeit und humanistischer Gelehrsamkeit zum frühreformatorischen Glauben scheint sich in Braunschweig anfangs relativ problemlos vollzogen zu haben. In allen Weichbilden gab es begeisterte Verkünder der neuen Lehre. In der Altstadt an St. Michaelis Heinrich Lampe, im Hagen an St. Katharinen Johannes Wissel, in der Neustadt an St. Andreas Konrad Dume, in der Altenwiek an der Spitalskirche St. Marien Johannes Kopman und vor den Toren der Stadt an der alten Leprosenkapelle St. Leonhard Johannes Bessel.

„Sie hatten aber von der Evangelischen Lehre noch keine sonderliche Anleitung / nahmen derowegen für / weil noch keine Postillen oder Catechißmi vorhanden und bekandt waren / die gewöhnlichen Evangelien / auch offt ein gantz Capitel aufs beste / wie sie vermochten / zu erklären / wobei sie denn nach Gelegenheit der Papisten Mißbräuche allgemählich entdeckten. Solche Art zu predigen kam dem Volk gantz neu und frembd vor / weil gar wenig Leute die Bibel oder deren Historien gesehen oder gelesen hatten / wurden also von den Fabuln ab und zu den Texten der Bibel angeführet. Welches denn vielen Anlass gab, das Neue Testament / und andere Christliche Bücher an sich zu kauffen / dieselbe fleißig zu lesen und nachzuschlagen / erforschende nach dem Exempel der Thessalonicher / ob sichs auch also verhielte / wie sie es in der Kirchen von ihren Predigern gehört hätten? Und nachdem sie es also wahr befunden / giengen sie fleißiger denn vorhin zur Kirchen / dadurch die Hitze und Durst zur wahren Evangelischen Lehre immer zunahm / die Papistische aber immer tieffer in Verachtung gerieht.“ (Rehtmeyer, 1710, S. 24)

Die Prälaten, die es inzwischen nicht mehr wagten, mit offener Gewalt vorzugehen, versuchten ihre Gegner mit deren eigenen Waffen zu schlagen, indem sie hervorragende Prediger der alten Kirche auftreten ließen. Diese predigten aber bald vor tauben Ohren und leeren Bänken.

Ungeachtet der eindringlichen Warnungen der Obrigkeit zog die Bewegung der neuen Lehre immer weitere Kreise in der Bürgerschaft und der Geistlichkeit. Wie weit dabei die Entwicklung innerhalb kurzer Zeit fortgeschritten war, machen mehrere Ereignisse deutlich: erstmals wurde z.B. 1526 die Messe im Dom zu Ostern in deutscher Sprache zelebriert und im Herbst 1527 hatten die Prädikanten Heinrich Lampe und Johannes Oldendorp an St. Magni die katholischen gottesdienstlichen Zeremonien aufgehoben. Zu Beginn des neuen Kirchenjahres gingen sie mutig daran, an der Magnikirche alle papistischen Bräuche abzuschaffen. Dies taten sie auf eigene Verantwortung, ohne ihren Pfarrer zu fragen oder die Genehmigung der kirchlichen oder weltlichen Oberen einzuholen. Die einzigen Sakramente, an denen die junge Kirche noch festhielt, Taufe und Abendmahl, wurden in deutscher Sprache gespendet. Außerdem wurde die evangelische Predigt auch an allen Wochentagen – als Konkurrenz zu der täglichen Messe – durchgeführt. Das Vorgehen der beiden Prädikanten von St. Magni fand bald Nachfolge bei den übrigen evangelischen Predigern der Stadt. Ein vom Rat erlassenes Strafmandat gegen diese reformatorischen Aktivitäten blieb ohne die geringste Beachtung. Das Vorgehen von Lampe und Oldendorp war im Grunde ein selbstherrlicher Akt, entsprechend heftig war die Reaktion von Rat und katholischer Stadtgeistlichkeit.

Den weiteren Verlauf der reformatorischen Bewegung konnte die Obrigkeit aber nicht mehr aufhalten. Ein Bericht in Rehtmeyers berühmter Kirchen-Historie gibt einen bezeichnenden Eindruck, wie der Versuch scheiterte, mit einem Magdeburger Prediger den alten Glauben zu verteidigen.

Dieser „wollte mit drei Predigten alle lutherische Ketzerei aus Braunschweig stürzen und ausrotten“. „Als er nun mitten im vollen Predigen war / und einen Spruch aus dem Briefe Petri anführte / damit er nach seiner Meynung beweisen wollte / daß man mit guten Wercken die Seeligkeit Gott abverdienen könne / stund unter andern Zuhörern ein fremder Prediger aus dem Lande Lüneburg / mit Namen Herr Johann / ein kühndreister Mann / der fiel dem auf der Kanzel stehenden pralenden Doctor in die Rede / und sagte etlichemal laut heraus: Herr Doctor, ihr führet den Spruch nicht recht an; wiese ihm sein Buch / und sprach: Herr Doctor, hier steht anders geschrieben. D. Sprengel antwortete mit Schrecken: Guter Freund, ihr möget vielleicht eine andere translation oder Übersetzung haben / nahm sein Buch und sagte: In meinem ist`s so geschrieben / oder mein Exemplar hält also / wie ich gesagt. Hierauf predigte er weiter fort / und machte den Schluß mit diesen Worten: Hieraus ist nun bewiesen / daß ein jeder Mensch durch seine guten Werke könne selig werden. Darauf hub ein Bürger / mit Namen Henning Rischau an / und sagte mit lauter Stimme: Pape / du lügst / oder Pfaffe / du läugst. Fieng hierauf mit eben so heller Stimme an / den XII. Psalm zu singen / welchen erst neulich D. Luther in recht nachdenckliche teutsche Verse gebracht: Ach GOTT vom Himmel sieh` darein / und laß dich deß erbarmen / Wie wenig sind der Heiligen dein / Verlassen sind wir Armen / den zugleich alle Zuhörer anstimmeten. Da stieg D. Sprengel sehr beschämt von der Kantzel herunter / und konnte vor starkem Gedränge des Volks kaum aus der Kirche kommen / zog davon / und unternahm sich zu Braunschweig keines Predigens mehr: wurd noch dazu von dem Syndico Preussen / der ihn hatte hierher gebracht / hefftig ausgemacht / daß er nicht mit grösserer Klugheit und Vorsichtigkeit eine so wichtige und angelegene Sache bey einer so Volckreichen Gemeinde gehandelt hätte / und hielt ihm vor / ob er nicht wüsste, daß sie Sachsen wären / welche sich nicht zwingen / sondern führen liessen.“ (Rehtmeyer, 1710, S. 31f.)

In der politischen Führung des Weichbildes der Altewiek entschied man sich als Folge der Handlungen Lampes gegen die alte Predigtweise. Erstmals nahm damit ein Weichbildrat gezielt Einfluss auf die inhaltliche Ausrichtung der Predigt. Die Bürgervertretungen, Gilden und Bauerschaften, forderten schließlich vom Rat die Neuordnung des Gottesdienstes, die Beseitigung der Missbräuche in der Kirchenzucht und die Einstellung von Predigern, die das Evangelium in der neuen Auslegung verkündeten. Vermehrt führten in der Folgezeit illegale Versammlungen revolutionären Charakters zu Unruhen und zwangen den Rat zum Handeln und Verhandeln. Die Situation, insbesondere zu Beginn des Jahres 1528 war dabei für den Rat der Stadt Braunschweig äußerst schwierig. Mit Hilfe des allgemein angesehenen Rechtsgelehrten Autor Sander hatten nämlich die Bürger eine Eingabe an den Gemeinen Rat gerichtet, in der die endgültige Einführung der evangelischen Lehre in allen Kirchen der Stadt gefordert wurde. Durch das Wormser Edikt war jedoch jede Änderung in Religionsangelegenheiten untersagt. Kaiserliche Mandate sowie herzogliche Edikte verschärften nach den Auslegungen der katholischen Vertreter, wie Herzog Heinrich dem Jüngeren, diese Bestimmungen noch. Bei diesen Mandaten handelte es sich wohl um die Reichstagsbeschlüsse von Speyer 1526. Auf diesem Reichstag vertrat Ferdinand I. seinen Bruder Kaiser Karl V. Statt Reformation sollte vordringlich die Unterstützung des militärischen Vorgehens gegen die Türkengefahr behandelt werden. Die lutherischen Kräfte forderten jedoch mit Blick auf das Wormser Edikt zuerst die reformationsrelevanten Themen zu behandeln. Im Auftrag seines Bruders sollte daher Ferdinand I. im Interesse der politischen Handlungsfähigkeit die strengen Vorgaben des Wormser Edikts lockern. Nach Entscheidung des Reichstags sollte daher jeder Landesfürst bzw. die Reichsstände in der Frage der Einhaltung des Edikts so vorgehen, „wie ein jeder solches gegen Gott und Kayserl. Majestät hoffet und vertrauet zu verantworten.“ Diese Entscheidung kam einem Toleranzbeschluss gleich und übertrug das Entscheidungsrecht in Glaubensfragen faktisch auf die einzelnen Reichsstände. Diese sahen es als gegeben an, nun in eigener Entscheidung entweder beim alten Glauben bleiben oder aber zum evangelischen Glauben übertreten zu können.

In diesem Sinne griff man nun, vor allem in den Weichbilden Altewiek und Hagen in den Gottesdienstablauf und in die Zeremonien mit maßgeblichen Änderungen ein. Diese Vorgehensweise war grundlegend und forderte ein Eingreifen des Rates, im Interesse der Stadt. Noch mehr galt dies für Zusammenkünfte der Bürger mit dem erklärten Ziel, eine Änderung des Kirchenwesens zu erreichen. Dazu zählten die verbindliche Einführung der lutherischen Predigt, Abschaffung „Papistischer Mißstände“ oder die Feier des Abendmahls gemäß dem Evangelium unter beiderlei Gestalt, mit Brot und Wein. Die Braunschweiger Politik befand sich dabei in einem echten Dilemma, denn ein solcher Verstoß durch den Rat hätte Herzog Heinrich der Jüngere mit Unterstützung des Kaisers nutzen können, um endlich gegen die verhasste Stadt Braunschweig gewaltsam vorzugehen. Der Herzog hatte, im Einverständnis mit Erzbischof Albrecht von Mainz, gefordert, das herkömmliche Kirchenwesen in der Stadt zu erhalten. Der Rat spielte zunächst auf Zeit und gab schließlich doch der Forderung der Bürger nach lutherischer Predigt nach. Zugleich ging er eine auf weitere Forderung der Gemeinde ein, nämlich die Berufung eines gelehrten Theologen. Die Wahl fiel auf den ehemaligen Prior des St. Johannisklosters in Halberstadt, Heinrich Winkel, einen auch in Braunschweig durchaus bekannten Mann, der 1525 aus seinem Kloster ausgeschlossen worden war und sich wegen seiner evangelischen Überzeugung als Prediger in Halberstadt nicht hatte halten können. Am Sonntag 1. März 1528 hielt Winkel seine erste Predigt in Braunschweig und fand überwältigendes Interesse bei der Bevölkerung. Es gelang ihm allerdings nicht die vom Rat erhoffte Beruhigung in der Bevölkerung zu erreichen. Die Unruhen drohten allmählich sogar in einen gewaltsamen Umsturz umzuschlagen. Damit war der Boden bereitet für die Tätigkeit jener Persönlichkeit, die im Mittelpunkt der Reformation in Braunschweig stehen sollte: Johannes Bugenhagen.

Johannes Bugenhagen

Johannes Bugenhagen stammte aus der unmittelbaren Umgebung von Martin Luther, war seit 1523 Universitätsprofessor und Stadtpfarrer in Wittenberg und galt als herausragender Vertreter der neuen Lehre. Am Tag vor Himmelfahrt, am 20. Mai 1528, traf er in Braunschweig ein und wurde noch am selben Abend in der St. Andreaskirche durch Heinrich Winkel in sein Amt „als allgemeiner Lehrer und Prediger in allen Kirchen der Stadt“ öffentlich eingeführt und durch Handauflegen aller versammelten Prediger sozusagen feierlich bestätigt. Die Bürgerhauptleute bezeichneten Bugenhagen als „unseren erwählten und von Gott gesetzten Praedikanten und Bischof“, was Rehtmeyer in seiner Braunschweiger Kirchengeschichte hervorhebt: „daher er den Namen des ersten Braunschweigischen Superintendenten bekommen.“ (Rehtmeyer, 1710, S. 60) Bugenhagen hielt am Himmelfahrtstag seine Antrittspredigt in der Brüdernkirche. So groß war dabei der Andrang der Gläubigen, dass vor der Kirche von einem anderen Prädikanten eine zweite Predigt gehalten werden musste. In einer ungeheuer intensiven Tätigkeit verkündete Johannes Bugenhagen nicht nur das neu gewonnene Verständnis des Evangeliums, verhandelte mit dem Rat und den Bürgern und machte sich mit den städtischen Verhältnissen vertraut, sondern erarbeitete auch sein Hauptwerk, die neue Braunschweiger Kirchenordnung. Diese Arbeit erfolgte in engem Einvernehmen mit dem Rat, in dem sich inzwischen ebenfalls eine Mehrheit zur Reformation bekannte.

Sollte die neue Kirchenordnung auf gesetzlich gültigem Wege in Kraft gesetzt werden, und zwar als Ratsordnung, so war die Zustimmung der beiden Stände, der Gildemeister der 14 Gilden und der Bürgerhauptleute der fünf politischen Gemeinden notwendig. Dieses Problem löste Bugenhagen, indem er Ende August 1528 einen ersten Entwurf der zukünftigen Kirchenverfassung den Ständen zur Stellungnahme überreichte. Dazu verfasste er ein Verzeichnis, in dem er die entscheidenden Sachaussagen in kurzer Form zusammenfasste. Zustimmungen, Einwände und Kritik wurden vermerkt, teilweise bei der Endredaktion berücksichtigt oder verworfen. Schließlich konnte die von Johannes Bugenhagen weitgehend erarbeitete neue Braunschweiger Kirchenordnung am 5. September 1528 in ihrer endgültigen Fassung vorgelegt werden. Bereits in Bugenhagens Anmerkungen wird die Besonderheit dieser Kirchenordnung erkennbar: Für ihn ist sie zunächst sein theologisches Werk, enthält seine Lehre. „Für die Lehre aber, hierin beschrieben, will ich durch Gott antworten“. Zugleich aber ist – und dies gilt es besonders zu betonen – auch „die Ordnung … des Rates und der ganzen Gemeinde in Braunschweig“. Bereits im ersten Abschnitt wird die grundlegende Zielrichtung der Kirchenordnung ersichtlich:

„Vor allen Dingen sind drei Dinge als nötig angesehen. Das erste: gute Schulen aufzurichten für die Kinder. Das andere: Prediger, die das Wort Gottes rein dem Volke vortragen, anzunehmen; auch lateinische Lesungen und Auslegung der heiligen Schrift für die Gelehrten zu verschaffen. Das dritte: gemeine Kasten einzurichten mit Kirchengütern und anderen Gaben, daraus solche und andere Kirchendienste erhalten und der Armen Notdurft geholfen werde. Danach wird auch behandelt, was christliche Zeremonien und andere Kirchendienste anbetrifft.“ (Bugenhagen, zit. in: Jürgens, 2010, S. 140)

Zur Abstimmung und Annahme kamen Rat und Ratsgeschworene, die Gildemeister der 14 ratsfähigen Gilden und die 28 Hauptleute der fünf Gemeinden am Sonnabend, dem 5. September 1528 zusammen. Dazu vermerkte Bugenhagen:

„Und ein Ehrbarer Rat und die ganze Stadt oder Gemeinde haben einträchtiglich alle Ordnungen von den Schulen, Praedikanten, Kasten, Kirchengesängen und anderen Dingen, wie in diesem Buch beschrieben ist, angenommen. Die Annahme und einträchtigliche Vereinigung ist geschehen Sonnabend vor Marien-Geburt im Jahr 1528 und ist am anderen Tage in allen Kirchen von den Kanzeln bekannt gegeben worden. Darum haben auch die Bürger über die ganze Stadt hin in allen Kirchen zur Danksagung das Te deum laudamus gesungen.“ (Bugenhagen, zit. in: Jürgens 2003, S. 80)

Es war Bugenhagens erste Kirchenordnung, die in Kraft gesetzt wurde. In den nächsten fünfzehn Jahren folgten ihr bis Dänemark nach diesem Braunschweiger Vorbild zahlreiche weitere. Sie haben Johannes Bugenhagen den Ruf als Reformator des Nordens eingebracht.

Ausblick

Mit dem Erlass der Kirchenordnung aber war Bugenhagens Mission in der Stadt Braunschweig vorerst erfüllt. Sein nächster Auftrag wartete schon: Hamburg. Gern hätte man ihn für Braunschweig – sogar als Superintendenten – gewonnen; jedoch vergeblich. Die Bemühungen um einen tüchtigen Lenker der jungen Braunschweiger Kirche unterstützte Bugenhagen allerdings noch, und Martin Luther selbst hatte ihn ausgewählt: Martin Görlitz, der bis dahin Prediger in Torgau gewesen war. Am 18. September 1528 traf er in Braunschweig ein und wurde als Superintendent eingesetzt. Görlitz empfing in feierlicher Versammlung von dem ganzen Rate und unter den Augen Bugenhagens durch Handschlag das Gehorsamsgelöbnis sämtlicher Geistlicher. Winkel wurde sein erfolgreicher Koadjutor. Kurze Zeit nach der Einführung der beiden Männer in ihr Amt hat, um den 10. Oktober 1528, Braunschweigs Reformator Johannes Bugenhagen die Stadt verlassen. Das Reformwerk für Kirche (und Schule) war – vorerst – erfolgreich abgeschlossen, auch wenn noch mancher Kampf um die Festigung der Reformation folgen sollte. Johannes Bugenhagen gilt zu Recht als der Reformator Braunschweigs. Der Rat der Stadt Braunschweig aber war durch seine Haltung und seinen Beschluss ein wesentlicher und entscheidender Träger der Reformation in Braunschweig. „Für Braunschweig war am 5. September 1528 eine neue Zeit angebrochen“, wie die Chronik der Stadt vermerkte.

Mit dem „einträchtiglichen“ Ratsbeschluss vom 5. September 1528 war die Reformation in der Stadt Braunschweig endgültig eingeführt. Zu Recht gilt diese Ratsvorlage und damit die Braunschweiger Kirchenordnung als eines der wichtigsten Verfassungsdokumente des deutschen Luthertums. Selten war ein Ratsbeschluss so zukunftsbestimmend für die Stadt Braunschweig wie dieser und man darf ihn zweifelsohne als einen der historisch bedeutsamsten der Stadtgeschichte bezeichnen. Zugleich steht die Entwicklung in Braunschweig geradezu paradigmatisch für eine frühe Stadtreformation, die sich als ein von Bürgern getragener vielschichtiger Prozess darstellt, an dessen Ende eine Reformation von unten erfolgreich realisiert wurde, beispielhaft für zahlreiche weitere Städte und Regionen.

Literatur

  • Biegel, Gerd (2016): Euricius Cordus. Ein Humanist am Vorabend der Reformation in Braunschweig. In: Einert, Benedikt & Ploenus, Michael (Hrsg.): Aus dem Nähkästchen des Historikers. Miniaturen für Matthias Steinbach. Braunschweig: Selbstverlag.
  • Bräuer, Siegfried (1994): Der Beginn der Reformation in Braunschweig. Historiographische Tradition und Quellenbefund. In: Braunschweigisches Jahrbuch Bd. 75, S. 85-116.
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  • Brüdermann, Stefan (2000): Das Zeitalter der Glaubensspaltung (1495-1634). In: Jarck, Horst-Rüdiger & Schildt, Gerhard (Hrsg.): Die Braunschweigische Landesgeschichte. Jahrtausendrückblick einer Region. Braunschweig: Appelhans Verlag (insbes. S. 447-450).
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  • Jürgens, Klaus (1978): Die Reformation in der Stadt Braunschweig von den Anfängen bis zur Annahme der Kirchenordnung. In: Die Reformation in der Stadt Braunschweig. Festschrift 1528-1978. Braunschweig: Limbach, S. 25-70.
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  • Rehtmeyer, Philipp Julius (1710): Historiae Ecclesiasticae Inclytae Urbis Brunsvigae Pars III Oder Der berühmten Stadt Braunschweig Kirchen-Historie Dritter Theil. Braunschweig: Zilliger.
  • Zimmermann, Gottfried (1978): Der Mönch Gottschalk Kruse, Initiator der reformatorischen Bewegung in Braunschweig. In: Die Reformation in der Stadt Braunschweig. Festschrift 1528-1978. Braunschweig: Limbach, S. 19-24.

Über den Autor

Prof. Dr. h.c. Gerd Biegel: Institutsdirektor, Technische Universität Braunschweig, Institut für Braunschweigische Regionalgeschichte (Deutschland). Kontakt: biegel@gerd-biegel.de

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