Book Review / Рецензия книги / Buchbesprechung: Pampel, Margot & Zwalf, Felicity (2017): As Chance Would Have It. From Jena to Melbourne

By Hein Retter | December 18, 2017

Pampel, Margot & Zwalf, Felicity (2017): As Chance Would Have It. From Jena to Melbourne. Published by Makor at Lamm Jewish Library of Australia. (171 Seiten; ISBN 978-1-876-733-36-0; 25,00 $AU; in Deutschland nur beziehbar durch Stadtmuseum Jena, Markt 7, D-07743 Jena, stadtmuseum@jena.de; 20,00 €).

Dieser relativ schmale, doch umso gewichtigere Band gehört zum Genre der Literatur autobiographischer Berichte von NS-Verfolgten im Zeichen des Holocaust. Unter dem Titel „As Chance Would Have It“ („Wie es der Zufall so wollte“), erschienen die Jugend- und Lebenserinnerungen von Margot Pampel, geboren 1922 in Jena als Margot Reinhardt, erstes und einziges Kind ihrer Eltern. Sie lebt heute in einem Altersheim in Melbourne (Australien).

Margot erzählte ihrer Tochter Felicity (die mit ihren erwachsenen Kindern heute selbst Großmutter ist) ihr Leben auf Deutsch. Es gab viele Anläufe für diesen Bericht, denn Margot Pampel hatte lange Zeit über ihre jüdischen Großeltern, ihre in Nazi-Deutschland erlittenen Ängste und die Ermordung ihrer Mutter im KZ Auschwitz geschwiegen. Felicity Zwalfs Vorwort stammt aus dem Jahr 2009. Krankheiten und der Tod eines geliebten Menschen verzögerten den Abschluss des Vorhabens. Felicity Zwalf übersetzte die Erzählungen ihrer Mutter ins Englische, fügte die Ablichtungen von aufbewahrten Briefen und Dokumenten hinzu und gab den Band heraus. Die Lebenserinnerungen wurden für Kinder, Kindeskinder und Freunde der Familie geschrieben, nicht für eine größere Öffentlichkeit, dabei sind sie unbedingt lesenswert und verdienen hierzulande öffentliche Beachtung – aus mehreren Gründen.

Einer dieser Gründe ist, dass Margot von ihrer Schulzeit in der Jenaer Universitätsschule erzählt, die sie von 1929 bis 1935 besuchte. Ihr Zeitzeugenbericht liefert alles andere als eine Bestätigung für die Ansicht von Erziehungswissenschaftlern der Gegenwart, die von dem Reformpädagogen Peter Petersen (1884-1952) geleitete Schule sei eine judenreine Nazi-Schule gewesen. Die Moral, die einmal ihr Urteil gefällt hat, lässt sich in der Tat nicht korrigieren. Die historische Lernfähigkeit ist gering hierzulande. Deshalb wird auch ein solcher Bericht, welcher dem heute im deutschsprachigen Raum fest etablierten Urteil, der Schulleiter Petersen, Professor an der Universität Jena, sei Nazi und Rassist gewesen, die ganz andere Erfahrung einer vom Nationalsozialismus Verfolgten entgegen stellt, daran nicht alles plötzlich ändern. Margot Pampel berichtet unter anderem von ihrer Freundschaft mit Uli Dannemann im ersten Schuljahr in der Jenaer Universitätsschule (von ihr behaupten heute sogenannte “Experten”, es habe dort keine jüdischen Kinder gegeben); die jüdische Familie zog nach Köln, doch es gab ein Wiedersehen im Jahr 2002 (S. 136ff.) Die Stimme von Margot Pampel hat ein Recht, gehört zu werden, und sie sollte heute hinreichend Beachtung finden.

Margot Pampels Mutter, geboren 1891 als Gitta Czerwinska, stammte aus einer frommen jüdischen Familie in der Kleinstadt Łowicz im damals russisch besetzten Polen. Gitta war die Tochter des dortigen jüdischen Kantors, der ursprünglich aus dem damals zum Zarenreich gehörenden Taschkent stammte. 1908 übersiedelte die Familie aus Furcht vor einem Pogrom nach Chemnitz, wenig später verließ Gitta das Elternhaus und zog zu ihrer älteren Schwester nach Berlin, Inhaberin eines Frauenmode- und Wäschegeschäfts. Gitta absolvierte nach ihrer Schulzeit auf der Stickerei-Fachschule in Plauen (Vogtland) eine Ausbildung im Maschinen-Sticken und wurde Fachfrau im Textilgewerbe – zu einer Zeit, als die Bildung von weiblichen Jugendlichen noch stark durch die Rolle der künftigen Hausfrau und Mutter geprägt war. Wieder in Berlin lernte sie ihren späteren Mann kennen, Margots Vater, den (nichtjüdischen) Freidenker und Drucker [Friedrich Wilhelm] August Reinhardt (*1894). Gitta, im Band auch Gitty genannt, sagte sich gegen den Widerstand ihrer Familie vom jüdischen Glauben los. Die Heirat mit August Reinhardt erfolgte 1920 in Jena, dem neuen gemeinsamen Lebensort. Margot wurde 1922 in Jena geboren.

Der Lebensbericht Margot Pampels beginnt mit den Worten: „Do you know what a pogrom is? Maybe not, so I will tell you.“ Er handelt in den ersten Kapiteln von ihrer Jugend – in der Weimarer Republik und der Nazizeit. Sie berichtet von ihrem Vater, der als Mitglied der KPD für das „Thüringer Volksblatt“ arbeitete, der kommunistischen Zeitschrift in Groß-Thüringen. Der Vater war nicht nur KPD-Mitglied, sondern auch bei den Naturfreunden, der Roten Hilfe und der Gewerkschaft, meist in politische Gespräche mit Freunden vertieft oder an Artikeln sitzend für seine Zeitung, doch hatte er auch Zeit für seine Tochter Margot. Für sie waren die ersten acht Jahre eine glückliche Kindheit. Doch August Reinhardt starb schon 1930 durch einen Unfall.

Thüringer Volksblatt, 2.9.1930: Trauerfeier für August Reinhardt Quelle: Stadtarchiv Jena (Constanze Mann)

Thüringer Volksblatt, 2.9.1930: Trauerfeier für August Reinhardt
Quelle: Stadtarchiv Jena (Constanze Mann)

Margot Pampel beschreibt ihre Schulzeit in der Jenaer Universitätsschule mit ihrem Leiter, dem Begründer der Jenaplan-Pädagogik, Peter Petersen. Ihm ist sie lebenslang dankbar geblieben dafür, in seiner Schule vor und nach 1933 Zuwendung, Förderung, und Schutz vor dem auf der Straße grassierenden Rassismus erhalten zu haben. In die „Petersenschule“ in der Grietgasse, die als Versuchsschule nicht dem öffentlichen Schulwesen, sondern der Universität Jena unterstellt war, gingen, nach der „Machtergreifung“ Hitlers weitere Kinder jüdischer Herkunft, vor allem aber auch Kinder sozialistischer Eltern. Margot schreibt:

„Even today I still think my school was the most wonderful school you can imagine“ (S. 15).

Sie erzählt von ihrer kurzen Kinderfreundschaft mit Uli Dannemann, dessen jüdische Eltern wohlhabend waren und zu Hause Bedienstete hatten. Doch die Familie zog nach Beginn ihres zweiten Schuljahres nach Köln. Margot Pampel berichtet, dass der Schulleiter, Prof. Petersen, ihre Mutter zu einem Gespräch in die Schule einlud und ihr riet, der begabten Tochter durch Beantragung eines Stipendiums den Besuch der Aufbauschule zu ermöglichen, die ab Klasse 7 zum Abitur führte.

Das war 1935. Sie musste für das Stipendium eine Prüfung ablegen, und ihre Mutter musste schriftlich bezeugen, dass Margot „arisch“ sei. Petersen riet der widerstrebenden Mutter, die Erklärung einfach zu unterschreiben. So kam Margot mit dem bewilligten Stipendium in die höhere Schule. Das Schulgeld hätte die Mutter nicht bezahlen können; ihre ohnehin knappe Rente wurde 1935 im Zuge der Entrechtung der Juden noch einmal gekürzt. Margot musste geheim halten, dass ihre Mutter nach Nazi-Gesetzen „Volljüdin“ war. Als die Schulleitung nach zwei Jahren den Tatbestand aufdeckte, wurde ihr der weitere Schulbesuch untersagt. Das fiel in die Zeit, in der sie konfirmiert wurde.

Nicht ohne Anflug leichter Bitterkeit erinnert Margot Pampel, dass der Versuch ihrer Mutter nutzlos war, sie, Margot, vor den Drangsalierungen der Nazis zu schützen, indem sie durch Taufe und Konfirmation den Übertritt zum Christentum vollzog. Margot wurde 1933 in der Schillerkirche getauft. Sie liegt ganz in der Nähe ihrer damaligen Wohnung, Hausnummer 24, Schlippenstraße, im Stadtteil Wenigenjena. 1937 erfolgte nach längerer Unterrichtszeit ihre Konfirmation. Sie änderte nichts an der prekären Situation von Mutter und Tochter. Gott ist gnädig, du kannst auf ihn bauen, so wird es von der Kanzel gepredigt. Doch der Gott Jesu Christi war keineswesgs barmherzig und hat nicht geholfen – weder ihr selbst noch schon gar ihrer Mutter, deutet die Autorin an.

Margots Konfirmationsurkunde ist abgebildet (S. 31), ebenso der letzte Brief ihrer Mutter aus dem KZ vom 21. März 1943 (S. 55).

Der evangelisch-lutherische Pastor, der die Jugendliche in der Schillerkirche in Jena am 21. März 1937 konfirmierte, wusste, dass ihre Mutter nach NS-Gesetz Jüdin war. Der Konfirmationsspruch, mit welchem er Margot einsegnete, ist auf dem im Buch abgebildeten Konfirmationsschein sichtbar: Röm 12,18. Wie lautete der Spruch? Wer in der Bibel nachschaut, kann heute auf diese Frage nur sprachlos oder zornig reagieren; im Paulus-Brief an die Römer heißt es an der genannten Stelle: „Ist’s möglich, soviel an euch liegt, habt mit allen Menschen Frieden“ (Röm 12,18).

Im Neuen Testament vermahnte der Apostel mit diesen Worten seine Gemeinde. Als vom Pastor ausgewählter Konfirmationsspruch gilt die Mahnung der eingesegneten Jugendlichen. Doch welch ein Hohn, der in ständiger Angst lebenden Tochter einer vom NS-Regime wie Ungeziefer behandelten verarmten jüdischen Witwe, den Segen des christlichen Gottes zu erteilen mit der Aufforderung an die bekehrte „Halbjüdin“, Frieden zu halten, soweit sie, die Fünfzehnjährige, sich dazu in der Lage sehe! Diese Bemerkung geht allein auf das Konto des Rezensenten. Margot Pampel bezieht dazu nicht Stellung. Das Buch ist keine moralische „Abrechnung“ mit dem NS-Regime. Es beschreibt erzählend, auch in seinen sehr traurigen Passagen.

Nachforschungen des Rezensenten ergaben: Der für den Wohnbezirk zuständge Gemeindepastor Dr. Paul Rieger, der den Konfirmationsschein ausstellte, gehörte ab 1933 zu den Deutschen Christen, den Nazi-Lutheranern, deren Thüringischer Bischof, Martin Sasse, nach dem Pogrom im November 1938 triumphierend ein Buch schrieb mit dem Untertitel: „Weg mit ihnen!“ Damit waren die Juden gemeint, mit dem Hinweis Sasses auf Luthers von Hass bestimmten „Judenschriften“ von 1543. Deren kritische Diskussion im Vorfeld des Reformationsjubiläums (500 Jahre Ablass-Thesen) hat heute zu einer sehr viel kritischeren Sicht des Reformators geführt, als sie früher bestand. Auch wenn sich Pastor Rieger von den Deutschen Christen 1935 abgewandt haben soll: In der Konfirmation von Margot Reinhardt wird dies mit dem zitierten Bibelvers keineswegs deutlich.

Margots Leben nach der Schule war durch ständige Enttäuschungen und Misserfolge bestimmt. Sie musste Arbeit finden, um die eigene Existenz zu sichern, doch als Judenmädchen („Mischling 1. Grades“), hatte sie kaum Chancen. Eine Berufsausbildung zu absolvieren ließen die Nazis nicht zu. Falls sie Arbeit fand, war sie immer wieder von Entlassung und Demütigung betroffen, wenn am Arbeitsplatz ihre nichtarische Herkunft aufgedeckt wurde. Sie lebte dann oft zu Hause. Mit Kriegsbeginn konnte sie für gewisse Zeit einspringen in bezahlte Arbeit für Männer, die eingezogen wurden. Aber die Unsicherheit blieb. Und die Isoliertheit.

Weder Margot noch ihre Mutter verfügten in Jena über ein soziales Netz von Kontakten, in dem sie eingebunden waren; vor 1933 sah dies ganz anders aus. Abgesehen von Besuchen bei der Jenaer Familie Großkurth, die der im Hitlerstaat verbotenen Sozialdemokratie verbunden war. Die Eltern Großkurth waren Anhänger der Reformpädagogik Petersens und schickten die beiden Töchter in die Universitätsschule. Bei Großkurths hielt sich Margot gern auf. Doch auch hier war sie nicht sicher. Der Nazi-Blockwalter wusste Bescheid, bedrängte Vater Großkurth mit der drohenden Aufforderung, diesem Judenmädchen, Margot, jeden Besuch zu verbieten. Dies wies Familie Großkurth von sich mit dem Hinweis, Margot gehöre zur Familie.

Margot berichtet von der lebenslangen Freundschaft mit der durch Muskeldystrophie schwerbehinderten Hannele Großkurth (1926-2009), die ihre gesamte Schulzeit in der „Petersenschule“, der Jenaer Universitätsschule, verbrachte.

Der Reichspogrom vom 9./10. November 1938, von den Nazis „Kristallnacht“ genannt, war für Margot ein schreckliches Erlebnis. Männer mit Nazi-Uniform kamen, um die Mutter abzuholen. In einem großen Raum wurden alle in Jena lebenden Juden, Männer und Frauen, soweit man ihrer habhaft werden konnte, eingeschlossen. Von bekannten Gesichtern aus der Stadt wusste Gitta Reinhardt bis dahin nicht, dass sie Juden waren, darunter mehrere, die sie persönlich noch von der Petersen-Schule kannte (S. 38). Gitta Reinhardt wurde am nächsten Tag wieder entlassen, andere nicht. Überglücklich fanden sich Mutter und Tochter zu Hause wieder. Sie erhielten keine Information, warum dies alles geschah. Erst aus den Zeitungsberichten war von der „Kristallnacht“ die Rede.

Der Mutter wurde die Wohnung in der Schlippenstraße zum 1. Januar 1940 gekündigt, weil sie, wie der Vermieter schrieb, ihm “verschwiegen” habe, dass sie Jüdin sei (S. 66). Man fand am Stadtrand schließlich eine Bleibe in einem Gartenhäuschen. Gitta Reinhardt hatte sich regelmäßig bei der Gestapo zu melden, ihre Ängste stiegen von Mal zu Mal, ins KZ verschleppt zu werden. Eines Tages kam sie dann nicht mehr nach Hause zurück. Zuvor war sie von den Leuten, bei denen sie Putzdienste mit schwerem Gerät leisten musste, denunziert worden. Rheuma bedingte Schmerzen machten ihr die schwere Arbeit unmöglich. Sie wurde deportiert und 1943 in Auschwitz ermordet.

Margot, heute noch von Schuldgefühlen geplagt, ihrer Mutter damals nicht stärker zur Seite gestanden zu haben, sah als Jugendliche dasselbe Schicksal auf sich zukommen. Die Verwandten ihres Vaters in Aken wollten sie nicht aufnehmen. Ein Onkel besaß eine hohe Position bei der Polizei, sein Sohn (Margots Cousin), hatte bei der Hitlerjugend Karriere gemacht. Man sagte ihr, es sei kein Platz für sie. Nach der dort noch verbrachten Nacht mit einem erlebten Bombenangriff war sie doppelt froh, wieder weg zu kommen. Als „Judensau“ beschimpft zu werden, blieb ihr nicht erspart (S. 69). Aus Freunden, die ihr Arbeit verschafften, wurden plötzlich Feinde, die ihr „Sabotage“ vorwarfen und sie anzeigten, sobald ihre jüdische Herkunft bekannt wurde.

Margot, Vollwaise, musste untertauchen, unerkannt bleiben, ihre Existenz sichern, verfolgt von den Nazi-Behörden, die nach der Mutter auch die Tochter ins KZ stecken wollten. Wo konnte sie noch hin? Aus Jena musste sie weg. Wieder half Familie Großkurth. Hannele, die behinderte Freundin, die ihre Schulzeit in der Universitätsschule, von Petersen geschützt, beenden konnte, ohne von den Nazis als „unwertes Leben“ in den Tod geschickt zu werden, absolvierte eine Ausbildung für Behinderte in einem auswärtigen Internat, dem „Marienstift“ in Arnstadt. Das war eine kirchliche Einrichtung, eine orthopädische Klinik, die körperbehinderte Jugendliche betreute und Möglichkeiten der Berufsausbildung anbot. Heute kann man nachlesen (http://www.marienstift-arnstadt.de/marienstift-arnstadt/ueber-uns/unsere-geschichte.html), dass es dessen damaligem Leiter, Kirchenrat Friedrich Behr, gelang, die schwerstbehinderten Kinder und Jugendlichen vor der Auslieferung an die Tötungsmaschinerie der Nazis zu bewahren. Margot sah sich dort freundlich umsorgt, konnte dort aber auf Dauer nicht bleiben. Ihr wurde anderenorts eine Bleibe verschafft: im berühmten (ehemaligen) Augustiner-Kloster in Erfurt .

Das darin befindliche Waisenhaus war eine traditionsreiche kirchliche Einrichtung. Hier kann der Rezensent wiederum nur sagen: Was für ein historischer Zufall, dass Margot in jenem Kloster Unterschlupf fand, in dem Martin Luther als junger Augustiner-Mönch gelebt hatte. Nachdem Luther seine Hass-Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ (1543) veröffentlichte, ist festzuhalten, dass Margots Einzug in die Klostermauern, 400 Jahre später, ein trauriges Jubiläum darstellt, von dem sie natürlich nichts wusste. Sie hatte andere Sorgen.

Da sie, wenigstens formal, lutherische Christin geworden war, würde Luther ihr diesen Aufenthalt vielleicht sogar erlaubt haben. Ansonsten hätte die heimat- und wohnungslose junge Frau dasselbe Schicksal unter Luther befürchten müssen, das er 1543 allen Juden zudachte: die Vernichtung ihrer Existenzgrundlagen. Von diesem (Un-) Geist des Reformators muss in den Klostermauern etwas hängen geblieben sein. Denn Margot hatte pausenlos zu arbeiten. Freizeit gab man ihr kaum. Man wusste um ihre „rassische Unreinheit“. Nur ein halbes Jahr konnte sie das aushalten. Dann ging sie auf eigenen Wunsch, und man ließ sie gehen. Im Nachhinein betrachtet war das ihr Glück (was sie nicht schreibt, da sie es nicht wissen konnte): Wenige Monate später wurde das Kloster, das auch als Schutz vor Luftangriffen diente, durch einen Bombenangriff schwer in Mitleidenschaft gezogen, und sehr viele Menschen starben.

Durch eine öffentliche Annonce aufmerksam gemacht, ergriff Margot die Chance, unerkannt für das Bekleidungszentrum der Nazi-Behörde Speer (eine Abteilung der „Organisation Todt“) Büroarbeit zu leisten, immer von Angst erfüllt, erkannt zu werden. Sie hatte das Glück, ab Weihnachten 1944 in eine Abteilung dieser Organisation in Bozen (Südtirol, Italien) versetzt zu werden. Doch auch hier wurde sie vom langen Arm des Jenaer Arbeitsamtes entdeckt (das ihre „rassische“ Herkunft kannte) – mit der Aufforderung an den Betriebsleiter, sie nach Jena zurückzuschicken. Sie fuhr los und ließ sich Zeit; das Vorrücken der Alliierten zeigte, dass der Zusammenbruch des Hitlerstaates eine Frage weniger Wochen war. Die Verhältnisse wurden chaotisch. Sie überlebte das Kriegsende, und sie erfuhr, dass die jüngere Schwester ihrer Mutter dem Holocaust entkam, während die ältere in Berlin lebende Schwester (Margots Tante Rosa) mit ihrer Familie verschwunden blieb. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wurde die Familie im KZ ermordet (S. 88f.).

Margot berichtet von ihren Versuchen, in der unmittelbaren Nachkriegszeit ein neues Leben anzufangen. Den Plan zu studieren, der durch eine Prüfung an der Universität Jena hätte realisiert werden können, ließ sie bald wieder fallen. Das hätte zu lange gedauert. Sie absolvierte in Weimar einen Lehrgang für Russisch, wurde dann aber doch nicht in der DDR Russisch-Lehrerin, sondern ging 1947 in den Westen. Hier lernte sie in Lübbecke (Westfalen) ihren späteren Mann, Horst Pampel kennen, der in der Maschinenfabrik seines Vaters eine Ausbildung absolviert hatte. Nach der Heirat 1953 emigrierte das Ehepaar wenig später nach Australien. Sie beschreibt, wie es der kleinen Familie zu viert gelang – die Kinder Michael und Felicity wurden in Australien geboren –, sich eine neue Existenz aufzubauen.

Im hohen Alter stellte Margot den Kontakt her zu Ulli Dannemann: Jene Kinderfreundschaft, die in der Petersenschule in Jena begann, wurde bei einem Treffen in Deutschland wiederbelebt: Nach mehr als sieben Jahrzehnten sah man sich wieder. Uli war mit den Eltern vor den Nazis nach Südamerika geflohen, hatte Violine studiert, nahm internationale Verpflichtungen wahr (auch in den USA) und wurde, 1973 wieder nach Deutschland zurückgekehrt, ein gesuchter Lehrer dieses Instruments – neben seiner Tätigkeit als Sinfoniker. Uli Dannemann starb 2004.

Margot Pampel fragt sich im Rückblick auf ihre Jugend unter dem NS-Regime, was sie am Leben ließ, als sie, Vollwaise, aus Angst vor den Nazis nicht wusste wohin: Es sei der feste Wille gewesen, nicht das Schicksal der Mutter zu erleiden und mit schwierigen Situationen fertig zu werden – aber es war auch viel Glück dabei. Wie ihr bei ihrer Rückkehr nach Jena 1945 mitgeteilt wurde, hätte man sie wie alle anderen “Halbjuden” von dort aus ins KZ deportiert, falls man ihrer habhaft geworden wäre (S. 93).

Wichtig ist ihr am Ende, dass sie in der Schule von Petersen etwas für ihr Leben Grundlegendes lernte: “My love of teaching began in Professsor Petersen’s school, were I first experienced the enjoyment of sharing knowledge and helping others to learn” (S. 140).

Die Fäden der Verbundenheit mit der im thüringischen Jena verbliebenen ehemaligen Mitschülerin Hannele Großkurth und deren jüngeren Schwester, einer bekannten Keramikkünstlerin, rissen nicht ab. Die Stadt Jena ließ in einer Gedenkveranstaltung 2011 einen Stolperstein vor die letzte Wohnstätte der im KZ ermordeten Gitta Reinhardt verlegen. Die Enkelin, Felicity Pampel, kam aus Melbourne und sprach Gedenkworte. Aus Anlass des 25. Schuljubiläums der 1991 in ihrem Geburtsort neu gegründeten Jenaplanschule kam Margot Pampel, geb. Reinhardt, 2016, mit 94 Jahren, von Melbourne noch einmal nach Jena – und sie berichtete von früher.

OSTTHÜRINGER Zeitung, Jena, vom 5.6.2016: Australischer Gast in der Jenaplanschule

OSTTHÜRINGER Zeitung, Jena, vom 5.6.2016:
Australischer Gast in der Jenaplanschule

Das 2015 vom Stadtmuseum Jena herausgegebene Werk „Jüdische Lebenswege in Jena“ enthält einen gut recherchierten Artikel über Gitta Reinhardt (Seite 416-418), verfasst von Dr. Gabriele Rönnefarth, sowie Verweise auf weitere Kinder jüdischer Herkunft, welche die Universitätsschule besuchten.

Die Lebenserinnerungen Margot Pampels sind in Englisch erschienen, aber so einfach geschrieben, dass selbst Schüler sie nach mehrjährigem Englisch-Unterricht durchaus lesen und verstehen können. Ob irgendwann eine deutsche Ausgabe erscheinen wird, ist ungewiss und eher unwahrscheinlich.

Der Band kann direkt nach Vorkasse beim australischen Verlag Lamm Jewish Library of Australia (E-Mail: info@ljla.org.au) bestellt werden, kostet dann aber ca. 45 AU$ (australische Dollar), auf Grund der hohen Postgebühren. Solange der vorhandene Vorrat an Exemplaren im Stadtmuseum Jena reicht, lohnt es sich für Interessenten, den Band dort für 20 Euro zu bestellen (E-Mail: stadtmuseum@jena.de)

Rezensiert von Prof. em. Dr. Hein Retter, Professor i.R. für Allgemeine Pädagogik, Technische Universität Braunschweig (Deutschland). Kontakt: h.retter@tu-bs.de

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