Vera Kaltwasser (2013): Achtsamkeit in der Schule. Stille-Inseln im Unterricht: Entspannung und Konzentration. Weinheim und Basel: Beltz. Paperback (160 Seiten; ISBN 978-3-407-62631-8; 22,90 €)
Das Thema „Achtsamkeit“ (engl. mindfulness) stößt seit einigen Jahren auf wachsendes Interesse. Hunderte Bücher finden sich unter diesem Stichwort mittlerweile auf dem deutschsprachigen Buchmarkt, von Ratgebern zum „achtsamen“ Leben über buddhistische Lehrtexte bis zu Sammelbänden wissenschaftlicher Tagungen zur Achtsamkeitsthematik. Man könnte angesichts dieses Booms einerseits durchaus seinen inflationären Gebrauch monieren; andererseits zeigt das starke Interesse aber auch eindrücklich, dass immer mehr Menschen Aspekte der Lebensführung und Alltagspraxis moderner Industriegesellschaften als defizitär erfahren.
Dies trifft nicht minder auf die Schule zu. Hier scheinen Leistungsdruck und Konkurrenz, zunehmende Institutionalisierung des Alltags von Kindern und Jugendlichen und eine aufmerksamkeitserheischende Kultur kurzlebigen Konsums Rückzugs- und Ruhemöglichkeiten für das Individuum stark zu begrenzen.
Vera Kaltwasser versucht, mit ihrem Buch „Achtsamkeit in der Schule“ diesen Trends entgegen zu wirken und den Praktikern in pädagogischen Handlungsfeldern das Werkzeug an die Hand zu geben, mit dem man die Achtsamkeit und die Selbstwahrnehmung von Schülerinnen und Schülern kultivieren kann.
Achtsamkeit ist ursprünglich ein 2500 Jahre altes buddhistisches Konzept, wo es auf Pali als sati oder auf Sanskrit als smṛti bezeichnet wird. Durch seine Erwähnung im „Edlen Achtfachen Pfad“ zählt es zu den Grundlagen und den ältesten Schichten der buddhistischen Lehre. Wer nun allerdings insbesondere an der buddhistischen Seite der Achtsamkeitsschulung interessiert ist, wird in dem hier rezensierten Buch nur einige Hinweise finden. Kaltwasser verzichtet auf eine eingehendere Behandlung des buddhistischen Hintergrundes zugunsten moderner, undogmatischer und säkularer Sichtweisen, die zweifelsohne eine höhere Passung für westliche Gesellschaften und Schulsysteme aufweisen.
In acht Kapiteln führt die Autorin die Leser an Theorie und Praxis der Achtsamkeit in der Schule heran, wobei ihr Schwerpunkt – erfahrungsgenährt von ihrer Tätigkeit als Oberstudienrätin, Lehrercoach und Trainerin – auf der anwendungs- und anleitungsorientierten Seite der Achtsamkeitsthematik liegt.
In theoretischer Hinsicht kann Kaltwasser auf bewährte wie neue Erkenntnisse über das Wechselverhältnis von Körper und Geist zurückgreifen, aus denen sich Konsequenzen für die Persönlichkeitsbildung von Kindern in der Schule ableiten. Hier kann sie auf Etabliertes aus der Reformpädagogik, vor allem aber auf neue Einsichten der Hirnforschung verweisen. „Selbstwahrnehmung“, „Selbstwirksamkeit“, „Psychoneuroimmunologie“ oder „Embodiment“ sind einige der theoretischen Bausteine, die Kaltwasser aus der (internationalen) Fachliteratur einführt. Den Schlüsselbegriff des Buches „Achtsamkeit“ versteht Kaltwasser im Anschluss an Kabat-Zinn als aktive und bewusste Lenkung der Aufmerksamkeit (S. 45 f.). Für den psychophysischen Mehrwert ganzheitlicher Achtsamkeitsschulung sprechen nicht nur Erfahrungen an Schulen (hier scheinen US-amerikanische Schulen mit Formen der contemplative education weiter zu sein als deutsche), sondern auch eine wachsende Anzahl von wissenschaftlichen Studien.
In den stärker anwendungs- und anleitungsorientierten Kapiteln des Buches werden das chinesische Qi Gong, die Meditation im Sitzen, Achtsamkeitsphasen im Lehreralltag und zahlreiche kleine, umso praktikablere Übungen wie Phantasiereisen, Atemübungen, sogenannte „Momente der Herzlichkeit“ und das „Innere Lächeln“ sowie Aufweckübungen bzw. „Wachmacher“ beschrieben. In den Beschreibungen der einzelnen Übungen wird der Erfahrungsschatz der Autorin spürbar, die den Lesern zugleich bestimmte Nachfragen, Schwierigkeiten oder Erklärungshinweise an die Hand gibt.
Nun setzt die Achtsamkeitsschulung mit Kindern und Jugendlichen allerdings Zweierlei voraus: Zum einen müssen Schulen dieser Praxis Platz einräumen, sie also wertschätzen. Zum anderen müssen Pädagogen selbst kompetente Vermittler dieser Übungsformen sein, was ihrerseits (wenn möglich fortgeschrittene) Praxiserfahrung voraussetzt: Meditation kann nicht anleiten, wer nicht selbst meditiert.
Im Fazit: Vera Kaltwassers „Achtsamkeit in der Schule“, nunmehr in 2. Auflage beim Beltz Verlag erschienen, ist eine kenntnisreiche, zeitgemäße und praxisnahe Einführung in die Achtsamkeits-, Stille- und Selbsterfahrungspraxis mit Schülerinnen und Schülern, aus der Pädagogen zahlreiche Anregungen schöpfen können. Gerade angesichts des zunehmenden Leistungsdruckes und der Formalisierung und Begrenzung von Bildung nach PISA werden Ansätze, welche sich der pädagogischen Erschließung persönlicher Innenwelten widmen, als notwendiges Gegengewicht zum bildungspolitisch und administrativ gewollten Mainstream geschätzt werden.
Rezensiert von Dr. Olaf Beuchling
Erziehungswissenschaftler, Buddhismusexperte, Mitherausgeber von „International Dialogues on Education: Past and Present“; Contact: beuchling@ide-journal.org