Book Review / Рецензия книг / Buchbesprechung: David P. Baker (2014): The Schooled Society. The Educational Transformation of Global Culture.

By Reinhard Golz | September 7, 2016

David P. Baker (2014): The Schooled Society. The Educational Transformation of Global Culture. Stanford, California: Stanford University Press. [Cloth ISBN: 9780804787369; Paper ISBN: 9780804790475; Digital ISBN: 9780804790482; EAN: 9780804790475; 342 Seiten (gebunden), 360 Seiten (e-book)]

David Bakers Buch wird in einer verlagseigenen Kurzbeschreibung als alternative, bahnbrechende Perspektive auf die globale Bildungsrevolution und als eines der gegenwärtig wichtigsten Bücher in der Bildungssoziologie bezeichnet. Der Autor werde mit dem Buch seinen Ruf als einer der heute führenden Vertreter der Bildungssoziologie und der vergleichenden und internationalen Bildungswissenschaft festigen.

Inzwischen gibt es mehrere Rezensionen und Annotationen seines Buches, zahlreiche Informationen über die akademische Karriere des Autors, seine öffentlichen Vorlesungen, Interviews mit ihm usw., nicht nur in den einschlägigen Printmedien. Im Internet zeigt allein die Suche nach dem Buchtitel, dass es den Rahmen dieser Zeilen sprengen würde, alle diesbezüglichen Informationen aufzuführen. Auf eine besonders solide kollektive Rezension sei hier aber verwiesen: http://preserve.lehigh.edu/fire/vol1/iss2/6

Das Buch gliedert sich in die Einleitung mit dem Untertitel „Eine stille Revolution“ und zwei Hauptteile: „Dimensionen und Herkunft der geschulten Gesellschaft“ und „Gesellschaftliche Konsequenzen der Bildungsrevolution“. Eine abschließende Zusammenfassung trägt die Überschrift „Die geschulte Gesellschaft und jenseits davon: das Allgegenwärtige, Formidable und Geräuschvolle“. Das Buch ist ausgestattet mit zahlreichen Abbildungen, Tabellen, kommentierenden Fußnoten zu den einzelnen Kapiteln, einem sehr umfangreichen Literaturvereichnis und einem Namen- und Sachregister.

In starker Verkürzung kann die Grundidee des Buches vielleicht folgendermaßen beschrieben werden: Noch vor 150 Jahren bestand die Mehrheit der Weltbevölkerung aus Analphabeten. Heute haben die meisten Menschen grundlegende Lese- und Schreibfähigkeiten, und 20 Prozent der Bevölkerung absolvieren irgendeine Form der Hochschulbildung. Die Bildungsrevolution hat unsere Welt in eine geschulte Gesellschaft gewandelt. Bildung ist keine reaktive, sondern eine primäre Institution, die große gesellschaftliche Kräfte, wie Wirtschaft, Politik und Religion und damit die Gesellschaft im Ganzen und das menschliche Leben beeinflusst, die Gesellschaft und das menschliche Leben verändert hat und verändern wird.

In einem Interview nennt David Baker u.a. zwei Hauptkomponenten einer geschulten Gesellschaft, die symbiotisch miteinander interagieren: (1.) eine Intensivierung der Bildungsdemographie (weltweit erhalten immer mehr Kinder und Jugendliche eine Schulbildung in einer steigenden Anzahl von Jahren; es gibt mehr Hochschulabschlüsse, eine stärkere Nutzung von Bildungsabschlüssen auf dem Arbeitsmarkt usw.); (2.) eine Intensivierung der Bildungskultur (immer mehr Bereiche der Gesellschaft werden unter Bildungsaspekten gestaltet; Bildung erlangt immer tiefere und breitere Bedeutung für die Kultur als Ganzes).

Baker betont (S. 275), dass die Bildungsrevolution von der Entstehung der westlichen Universität bis zu der weit verbreiteten primären und sekundären Massenbildung und schließlich zur massenhaften Hochschulbildung, die Transformation der Individuen, sozialen Institutionen und schließlich der menschlichen Gesellschaft bewirkt habe. Formale Bildung wirke inzwischen mehr gestaltend als reproduzierend auf die Gesellschaft. So wie andere wesentliche gesellschaftliche Institutionen verlange die massenhafte formale Bildung eine signifikante Teilhabe an kulturellen Verständigungen, die das Leben global beeinflussen und dabei viele nicht-bildungsrelevante Dimensionen durchdringen. So gesehen könnten die unermüdliche Expansion der Beschulung der Weltbevölkerung und die wachsenden normativen Bildungsansprüche quer durch die Generationen das Verständnis vorherrschender Aspekte der spätmodernen Gesellschaft bereichern und viele Qualitäten der postindustriellen Gesellschaft und möglicher Szenarien für die Zukunft der globalen Gesellschaft sichtbarer machen.

Der Autor hat seine Idee einer „geschulten Gesellschaft“ mehrfach vorgetragen, sowohl in öffentlichen Veranstaltungen (siehe z.B.: https://www.youtube.com/watch?v=sv3CLr84UJU) als auch im Rahmen universitärer Vorlesungen und Seminare, nicht nur in den USA, sondern auch im Ausland (z.B. am 15. Juni 2015 an der Universität Magdeburg). Differierende Meinungen seiner Zuhörer und Leser und Interviews mit ihm sind auch im Internet veröffentlicht worden.

Angesichts dieser vielen Möglichkeiten, sich vor dem eigentlichen Lesen (und dem Kauf) des vielbeworbenen Buches einen tieferen Blick in seine Grundidee und deren Teilaspekte zu verschaffen, scheint es fast unmöglich, zu den bereits publizierten Kritiken noch Wesentliches hinzuzufügen – weder in lobend-empfehlender, noch in negativ-kritisierender Hinsicht – es scheint bereits alles gesagt zu sein.

Was aus der Sicht des Rezensenten bleibt, sind ein paar Ergänzungen zu einer Thematik, die für Baker offenbar von besonderer Bedeutung ist: die von ihm so bezeichnete „Affinität zwischen Bildung und Religion“. Es ist verständlich, dass sich von einem ernsthaften religiösen Standpunkt eine solche Affinität im Sinne einer naturgegebenen, wünschenswerten und unauflösbaren Verwandtschaft dieser Begriffe ergibt. Und es bedarf keiner weiteren Erläuterung, dass die klassische Pädagogik auch maßgeblich von religiösen Werten beeinflusst wurde. Auch ist nicht zu bestreiten, dass zu einer modernen, humanistischen Bildung auch Wissen über Religionen und Weltanschauungen gehört. Baker blendet in diesem Kontext allerdings nicht-religiöse Sichtweisen auf das Verhältnis von Bildung und Religion weitgehend aus und konzentriert sich auf die Kritik einer Position, wonach sich Religiosität mit dem Bildungsniveau verringere. Religion habe sich im Gegenteil weltweit bewährt und scheine trotz robuster weltlicher Kulturen unausrottbar zu sein. Das zeige sich ja insbesondere in der heutigen gebildeten Gesellschaft der USA, wo die Zahl der religiös gebundenen Menschen seit der Gründung der amerikanischen Nation stark gestiegen sei. Auch in säkularen nationalen Gesellschaften Westeuropas gäbe es immer noch erheblichen Glauben an das Übernatürliche. Anhand einer „Fülle von Beweisen“ beschreibt er, dass Religion und Spiritualität in der geschulten Gesellschaft nicht sinken, sondern sogar gedeihen. Baker anerkennt, dass es historische Beispiele für tragische inter-religiöse Konflikte, Gewalt, Eroberung und Bigotterie gibt, die auch Gründe für mehr Säkularisation darstellten. Andererseits habe sich Religion und Spiritualität auch positiv auf Gesundheit, psychisches Wohlbefinden, soziale Integration und moralische Entwicklung ausgewirkt, und es sei wahrscheinlich, dass der Glaube an das Übernatürliche eine immerwährende menschliche Qualität bleibe. Moderne Formen der Globalisierung seien überwiegend aus dem Westen gekommen bzw. maßgeblich von dort inspiriert worden; das Christentums habe dabei eine entscheidende Rolle gespielt. Kernwerte der christlichen Moral würden im Wesentlichen auch Grundwerte der geschulten Gesellschaft bleiben.

Bakers Vertrauen auf amerikanische Perspektiven und entsprechende problematische Verallgemeinerungen werden allenthalben sichtbar. Andere große Religionen (Hinduismus, Judentum, Buddhismus, Islam) finden keine adäquate Erwähnung im thematischen Kontext. Weitgehend unterbelichtet bleiben die äußerst unterschiedlichen historischen Zivilisationsprozesse anderer Kulturen, Religionen, Völker und Nationen sowie die Säkularisierungsprozesse.

Der Autor konnte wohl im Kontext aktueller Herausforderungen durch Kriege und Migration eine zunehmende Zusammenarbeit religiös und weltlich orientierter Menschen und Insitutionen – zumindest in einigen europäischen Ländern – noch wenig berücksichtigen. Ihm ist zuzustimmen, wenn er betont, dass sich Religion auch durch Bildung verändert. Dazu gehört auch der Einfluss gemeinsamer Aktivitäten christlich-karitativer, staatlicher und weltlicher Einrichtungen, religiöser und nicht-religiöser Menschen, z.B. bei der Integration von Menschen, die vor Verfolgung und Krieg fliehen. In dem dazugehörigen interkulturellen und inter-religiösen Dialog bereichern sie ihre jeweiligen religiösen bzw. weltlichen Positionen, ohne sie aber grundsätzlich zu verlassen. Es ist wohl weniger eine korrelativ-religiöse Affinität, sondern das gemeinsame humanitäre Ziel, dass sie zusammenführt. Ein anderes Beispiel: Wenn nicht-religiöse Bildungshistoriker und pädagogische Praktiker sich aktiv an den Vorbereitungen des 500. Jahrestages der protestantischen Reformation beteiligen, dann tun sie das aus geschichtswissenschaftlichem Interesse, dann wollen sie ihren fachspezifischen Beitrag leisten zu dem internationalen, interkulturellen und inter-religiösen Dialog, den unsere Welt heute dringender braucht denn je. Eine quasi unverrückbare „Affinität zwischen Bildung und Religion“ im Sinne Bakers ins Zentrum zu stellen, wäre hier eher kontraproduktiv. Wichtiger erscheint die Öffnung des Dialogs für alle humanistischen und demokratischen Denk- und Handlungsweisen.

Das Buch von David Baker ist trotz oder gerade wegen einiger argumentativer Besonderheiten lesenswert, Fragen aufwerfend und anregend für Diskussionen in verschiedenen humanwissenschaftlichen Bereichen (Bildungssoziologie und -philosophie, international-vergleichende und interkulturelle Bildungswissenschaft u.a.).

Baker selbst fordert Humanwissenschaftler verschiedenster Ausrichtung auf, die von ihm berührten Phänome weiter zu untersuchen. Dabei ist der international-vergleichende Blick (zum Beispiel auch auf Mittel- und Osteuropa) eine von mehreren Möglichkeiten bzw. Desiderata. Aus allgemeinpädagogischer Sicht könnten Bakers definitorische Erörterungen des Bildungsbegriffs aufgegriffen werden, verbunden mit der Frage, ob jede „Bildung“ an sich schon gut ist, ohne Berücksichtigung möglicher manipulativer Intentionen in zeitlichen, räumlichen, weltanschaulichen, (macht-)politischen u.a. gesellschaftlichen Kontexten. Das Buch bietet also viele thematische Anregungen sowie sehr umfangreiche Literaturhinweise für interessante Diskussionen und weiterführende humanwissenschaftliche Studien über eine „schooled society“.

Rezensiert von Prof. Dr. Reinhard Golz (Prof. i.R., Universität Magdeburg, Deutschland); websites: www.reinhard-golz.de; www.ide-journal.org/editorial-board/; E-mail: golz@ide-journal.org

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