Markus Meier (2015): Lernen und Geschlecht heute: Zur Logik der Geschlechterdichotomie in eduktativen Kontexten. Würzburg: Königshausen & Neumann (ISBN-10: 3826051017, broschiert, 268 Seiten, 39,80 Euro).
Das Thema „Jungen und Bildungsinstitutionen“ ist ein nicht nur bildungspolitisch, sondern auch gesamtgesellschaftlich „heißes“ Thema. Gehen moderne Gesellschaften einerseits von der „Gleichheit aller“ als Fundament des Zusammenlebens auch in Bildungsinstitutionen aus, so fördert geschlechterbezogene Bildungspolitik faktisch seit Jahrzehnten vor allem Mädchen und junge Frauen – mit kompensatorischer Legitimation. Andererseits offenbaren schulische Leistungstests und andere soziometrische Erhebungen einen rasanten Abstieg, ja Absturz der Jungen – und zwar weltweit. Diese Befunde passen nicht zusammen und es ist das Verdienst des neuen Buches von Markus Meier, Professor für Allgemeine Pädagogik in Kolumbien, diese Unvereinbarkeit rekonstruiert und Vorschläge zu einer grundsätzlichen Neuausrichtung der Debatte unterbreitet zu haben.
Die ersten beiden Kapitel sind rekonstruktive Skizzen der Bildungssituation und Bildungsteilhabe von Jungen und Mädchen über verschiedene Epochen hinweg. Dazu holt er in 13 Kapiteln weit aus, um auch die Ursprünge, die Wurzeln jeweils existierender pädagogischer Ungerechtigkeiten und Bildungsunzugänglichkeiten hervorzuholen, neue Ansätze zu beleuchten und alte zu hinterfragen. Markus Meier spannt dabei den Bogen von der Bildung und bildungstheoretischen Historie aus der Antike über Mittelalter, Reformation, Aufklärung, Frauenbewegung, Reformpädagogik, Nationalsozialismus, Nachkriegszeit, Bildungsreform bis zum PISA-Schock und dem Jungen benachteiligenden Bildungssystem unserer Tage. Fazit: Bis vor etwa 40 Jahren war die reproduktive Ungleichheit der Geschlechter das – epochenspezifisch jeweils unterschiedlich theoretisch artikulierte – Paradigma, das Bildungspolitik informierte. Erst seit etwa 50 Jahren steht die ökonomische Verwertbarkeitsgleichheit von Humankapital im Fokus bildungstheoretischer Reflektion und konsekutiv bildungspolitischer Entscheidungen. Es mache deshalb keinen Sinn, von nachholender Entwicklung oder moralischen Wiedergutmachungsansprüchen in dieser Debatte auszugehen. Er plädiert stattdessen für eine moderne geschlechterspezifische Pädagogik, die kompensatorisch gegenwärtig v.a. die berechtigten Anliegen von Jungen und jungen Männern ausreichend berücksichtigen müsse: Statt um „Mädchen und Mathe“ müsse es um „Jungen und Lesen und Schreiben“ gehen, was z.B. die PISA-Studien ebenso eindrucksvoll wie regelmäßig bestätigten. „Dieser Jungennachteil in der Sprachkompetenz ist dabei nicht nur besonders ausgeprägt, er ist darüber hinaus auch noch besonders gravierend, denn Kulturen fassen “den größten Teil ihres Wissens in Texte“ (S. 95).
Er diagnostiziert allerdings, dass Bildungspolitik und Geschlechterpädagogik sich diesen Erkenntnissen nicht stellen wollen, auch auf Grund institutioneller Rücksichtnahmen innerhalb der etablierten Erziehungswissenschaften und verwandter sozial- und humanwissenschaftlicher Bereiche: „Erziehungswissenschaftliche Reflektion wie pädagogische Praxis müssen die Tendenzen zur Marginalisierung des Segments junger Männer allgemein, junger Männer mit Migrationshintergrund im besonderen umkehren. Am Gelingen dieser Aufgabe werden Politik und Gesellschaft langfristig Geschlechterpädagogik zu messen haben und vermutlich messen“ (S.231), denn „die Massenarbeitslosigkeit ist je länger je mehr ein Bildungsproblem (und darin v.a. ein Problem junger Männer)“ (S. 89). „Wie entscheidend wichtig es ist, dass eine Gesellschaft die Energie junger Männer in produktive Bahnen lenkt, kann man gar nicht zu übertrieben darstellen“ (S. 129).
Innovativ und diskussionswürdig ist, dass der Autor nun über den Horizont dieser traditionellen Referenzwissenschaften der Erziehungswissenschaften, ihres Instrumentariums und ihres Erkenntnisstandes, bewusst hinausschaut. Einmal auf die „gute alte“ Psychoanalyse, Kristallisationspunkt vieler Reformanstrengungen der 1968er Jahre, heute unter Popperscher Epistemologie eher belächelt; sein Argument: Die Psychoanalyse anerkenne nicht nur die Geschlechterdichotomie als „unhintergehbare“ Dichotomie menschlicher Existenz, sondern sehe sie als „Ambivalenzen stiftende und schlichtende“ Variable wie keine andere, auf diese Weise Wachstum und Reifung – als eben auch und vor allem pädagogisch relevante Kategorien – ermöglichend. Den derzeitigen geschlechterpädagogischen Schlüsselansätzen wie Sozialisation und Konstruktivismus hingegen wirft er eine seltsame epistemologisch-kategoriale Unentschiedenheit zwischen vordergründig rein deskriptiven statistischen „Zahlenspielen“ bei gleichzeitiger – im Ton oft gereizter – feministisch-moralistischer Einfärbung vor. Das ist sicherlich in dieser polarisierenden Formulierung nicht sofort konsens- und mehrheitsfähig, hat aber das Verdienst, Alternativen zum genannten theoretischen Patt in der Geschlechterdebatte aufzuzeigen. Nicht mehr, aber eben auch nicht weniger.
Deutliche, geradezu schroffe Ablehnung erfährt in diesem Zusammenhang sowohl epistemologisch-theoretisch wie pragmatisch der Dekonstruktivismus, dessen erklärtes “Ziel einer nichtidentitären Jungenarbeit […] nicht der ‘andere Junge’, sondern gar kein Junge“ sei (S. 145), das trage Züge von illegitimer Gewalt gegen Jungen durch staatliche Institutionen. [Redaktionelle Notiz: manche Zitationen im html-Format dieser Rezension unterscheiden sich geringfügig von denen im Download-PDF-Format, S. 117-119; der Inhalt bleibt identisch.] Der Autor scheut dabei nicht vor klaren Urteilen zurück, wie seine Einschätzung des ebenso spannenden wie tragischen John/Joan-Falles um den amerikanischen Arzt John Money zeigt: Seinem Patienten David Reimer – Kind einfacher, Autoritäten trauender Eltern – war in Folge einer Beschneidung (vorsätzlich?) sein Penis verstümmelt und später amputiert worden, daraufhin wurde er kurzerhand als Mädchen erzogen, sein eineiiger Zwillingsbruder Brian wuchs – methodisch die „ideale Kontrollperson“ – als Junge auf. Obwohl der Fall als „empirische Verifikation“ von Gendertheorien verkauft wurde und wird (fachpublizistisch über Jahre hinweg von Money selbst, dazu auch heute noch von etwa Alice Schwarzer und Judith Butler, was Meier übersieht), stürzte sowohl der Betroffene selbst, als auch sein Bruder in der Realität in eine tiefe Krise, als sie von diesem grausamen Experiment erfuhren, beide Brüder begingen Selbstmord. Meier kommentiert bitter, aber wohl zutreffend, dieser „wissenschaftliche“ Vorgang sei „ein Beitrag für eine noch zu schreibende, spannende ‚Kriminalgeschichte der Pädagogik‘“ (S. 90).
Bei relativ neuen Zweigen wie Soziobiologie und Neurowissenschaften sieht der Autor hingegen neue pädagogische Ansatzpunkte zur Jungenbildungsförderung, z.B. im motivationalen Ansatz: „Kognitive Strategien hängen […] eng mit einer geschlechtstypischen Motivation zusammen. Deshalb ist z.B. grundsätzlich zu unterscheiden zwischen Unfähigkeit und Unwilligkeit, wobei Unwilligkeit mangels Übung langfristig zu einem Kompetenzdefizit werden kann. Es käme also auch auf eine geschlechtsbewusstere Methodik an, wenn Lerndefizite von Jungen im sprachlichen bzw. sprachverwandten Bereich behoben werden sollen“ (S. 199).
Es ist offensichtlich und sympathisch, dass der Autor bei aller wissenschaftlich gebotener Neutralität Empathie für Verlierer im gegenwärtigen Bildungssystem, Empathie für Jungen und deren Situation zeigt. Das ist selten in der „maingestreamten“ geschlechterspezifischen Pädagogik, denn „innerhalb der ‚geschlossenen Systeme‘ Schule und Hochschule haben Jungen und junge Männer wenig Möglichkeiten, ihre Situation zu artikulieren und ihre Anliegen durchzusetzen – auch wegen der Monopolisierung des Geschlechterthemas als ‚Frauenthema‘“ (S. 129).
Die durchweg wissenschaftliche Sprache mit einem sehr ausführlichen Literaturverzeichnis, einem Verzeichnis der Abbildungen, Graphiken und Tabellen und schließlich einem Personen-, Sach- und Ortsregister, verhindert gerade an Stellen, an denen Befunde gewertet werden, nicht, dass der Autor auch stilistisch überzeugt und angenehm zu lesen ist; geradezu poetisch fällt sein Fazit zum Schluss aus: „Es fehlt in der pädagogischen Debatte der Ton einer weisen, positiven Lebenszugewandtheit für Jungen – ein Indianerton, wenn man so will. Stattdessen ist ein vorwurfsvoller, ‘männerskeptischer’ pädagogischer wie erziehungswissenschaftlicher Habitus inzwischen geradezu zum ‚guten Ton‘ in Geschlechterfragen avanciert“ (S.131). Aufgelockert werden die Ausführungen darüber hinaus immer wieder durch Bildbetrachtungen historischer Gemälde oder zeitgenössischer Darstellungen, wie z.B. die Analyse zweier aktueller pädagogischer „Praxismappen“, die die jeweiligen Geschlechterrollen und Geschlechterzuweisungen und das Verhältnis der Professionellen zu Jungen und Mädchen in den jeweiligen Epochen demonstrieren.
Im abschließenden Kapitel über die Diskussion, was “Aufklärung” sei, verbergen sich in einem 12-Punkte-Katalog Vorschläge, um die „Geschlechterdebatte von der monotonen moralistischen Redundanz zu befreien” (S. 229) sowie konkrete Ansätze v.a. zur Jungenbildungsförderung aufzuzeigen.
Fazit: Der Autor stellt die geschlechterpädagogische Debatte in neue theoretische Kontexte und erweitert hiermit die Interpretationsmöglichkeiten des gegenwärtigen Geschlechterverhältnisses. Wo nötig schreckt er dabei vor klaren Positionierungen nicht zurück. Insbesondere die Behandlung der Frage nach den konkreten Möglichkeiten zur Beseitigung des signifikanten geschlechterspezifischen Bildungsgefälles zuungunsten der Jungen greift dabei ein hochaktuelles Thema auf. Dass sich Politik und Gesellschaft intensiver mit dem Thema beschäftigen müssen, erscheint nach der Lektüre deutlicher denn je.
Auch wenn vereinzelt eine Häufung von Fachausdrücken vorkommt, ist das Buch auch für Studienanfänger sehr gut lesbar. Das ist dem Umstand zu verdanken, dass der Autor die seltene Begabung besitzt, komplexe Sachverhalte pointiert und mit kurzen Sätzen zusammenfassend wiederzugeben, ohne unzulässig zu verkürzen. Deshalb ist das Werk auch für Leser geeignet, die in der geschlechterpolitischen Debatte unserer Zeit nicht nur passive, stille Zuhörer, sondern auch aktive, argumentative „Mit- und Einmischer“ sein wollen.
Das Buch hat das Potenzial, ein kritisches Standardwerk zum Thema geschlechterspezifischer Pädagogik zu werden.
Rezensiert von Dr. Bruno Köhler, Heidelberg. Kontakt: bruno-koehler@web.de