Zusammenfassung: Der Beitrag benennt Anforderungen einer Pädagogik, die Vielfalt anerkennt und die Bewältigung der damit verbundenen allgemeinpädagogischen, sonderpädagogischen und therapeutischen Herausforderungen nicht nur theoretisch zum Ziel hat, sondern auch erfolgreich praktiziert. Dargestellt werden Voraussetzungen für die entsprechende pädagogische Arbeit der Akteure: Kooperation, planmäßiges Handeln, die Entwicklung von Vertrauen, die Kenntnis und differenzierte Berücksichtigung der konkreten Dispositionen der Lernenden. In diesem Kontext werden Grundlagen der Reflexion, der Institutionsentwicklung und der Professionalisierung der pädagogischen Arbeit erörtert.
Schlüsselwörter: Allgemeine Pädagogik, Arbeitsbündnisse, Vielfalt, Sensibilität, Kooperation, Lerndispositionen, Professionalisierung, reflexives Handeln.
Summary: (Work alliances and cooperation as forms of practiced recognition—diversity and institutional sensibility): The article addresses the requirements of a pedagogy which acknowledges a kind of multiplicity that not only aims at meeting associated general and specific pedagogical and therapeutic challenges theoretically but also successfully puts it into practice. The discussion focuses on conditions for the respective pedagogical work of those involved: cooperation, acting with a plan, development of trust, awareness and differentiated consideration of the actual dispositions of learners. In this context the foundations of reflection, institutional development and professionalization of pedagogical work are discussed.
Keywords: general pedagogy, work alliances, multiplicity, sensibility, cooperation, disposition of learning, professionalization, reflective acting
Резюме: (Ульф Альгермиссен: Трудовые союзы и кооперация как формы признания на практике – многообразие и корпоративная чуткость): Статья называет требования педагогики, которая признает многообразие, которая не только теоретически, но и практически справляется с общепедагогическими, специально-педагогическими и терапевтическими вызовами. Излагаются предпосылки для соответствующей педагогической работы действующих лиц: кооперация, планомерность, развитие доверия, знание и дифференцированный учет конкретных настроений учащихся. В этом контексте рассматриваются основы рефлексии, организационного развития и профессионализации педагогического труда.
Ключевые слова: общая педагогика, трудовые союзы, многообразие, чуткость, кооперация, учебные настроения, профессионализация, рефлексия.
Einleitung
Der Pädagoge stellt nicht Erziehung im anderen her,
beide entwickeln ein Gemeinsames.
Folglich bringt jeder Akt des Erkennens eine eigene Welt hervor.
(Manfred Gerspach. Pädagogisches Denken und Handeln.)
Diversity-Ansätze sind nicht einheitlich zu erfassen und zu beschreiben. Je nach Kontext werden sie bedarfsgerecht konzipiert. Die Wörter Diversity und Vielfalt werden in den folgenden Ausführungen synonym gebraucht.
In Betrieben verändern sie Anforderungen von Qualitätsentwicklungsprogrammen, vor allem des Personalmanagements. Auf der Basis von Kategorientableaus wird die Qualitätsentwicklung um Perspektiven ergänzt, die Nachteile für Einzelne oder Personengruppen erkennen helfen und Prozesse der Chancengleichheit einleiten sollen. In allen Dimensionen kommt dem Management der Vielfalt ein Leitbildcharakter zu, der je nach paradigmatischer Tiefe unterschiedliche Entscheidungen und Prozesse initiiert.
Schulen und andere Bildungs-, Pflege- oder Gesundheitseinrichtungen haben im Rahmen eines Diversity-Managements die gezielte Entwicklung einer Sensibilität für Ausgrenzungs- und Benachteiligungsprozesse zu entwickeln und als auf Dauer flexibel angelegtes Selbster-forschungs- und Veränderungsprogramm zu verankern. Dabei ist davon auszugehen, dass vielfältig zusammengesetzte Gremien, Arbeitsgruppen, Kollegien und Lerngruppen an den ihre Praxis betreffenden Entscheidungen beteiligt werden. Diversitätsentwicklungen in pädagogischen Kontexten müssen als Demokratisierungsprozesse beschreibbar sein.
Welchen Merkmalen muss nun eine Diversity-Sensibilität in pädagogischen Zusammen-hängen gerecht werden? Schon vor dem Hintergrund der in Inklusionszusammenhängen geforderten Sensibilität für pädagogische Vielfalt in kultureller, didaktischer und institutioneller Dimension haben sich die Prozessabläufe den pädagogischen Grundannahmen der Kooperation und ihren grundlegenden Voraussetzungen unterzuordnen. Die Kopplung an ökonomische Effektivität – also eine einseitige unternehmerische Kosten-Nutzen-Relation – kann und darf für den Bildungs- und Gesundheitssektor nicht übernommen werden. Denn pädagogisches Handeln als Beziehungshandeln und engagierte Integrationsarbeit sind vor allem dann gefragt, wenn die Beziehungen und Verhältnisse sich nicht selbstverständlich und einfach, sondern komplex und unübersichtlich gestalten; wenn die Klientinnen nicht unbedingt zu den ökonomisch und sozial stärksten Gruppen in der Gesellschaft zählen.
Die Gestaltung von Arbeitsbündnissen (Oevermann, 1996; Algermissen, 2012, S. 15f.) ist eine Aufgabe für Pädagogen, die den sozialen und emotionalen Zustand von Lerngruppen und die Begründung von Voraussetzungen kooperativen Handelns als qualitative Herausforderung annehmen. Sie übernehmen neben ihren Aufgaben als Unterrichter und Vorbilder auch Verantwortung für die therapeutischen Dimensionen des pädagogischen Handelns in der Lerngruppe und der gesamten Institution.
Die therapeutische Dimension stellt sich immer dann als konkrete Aufgabe ein, wenn es darum geht, das pädagogische Handeln kritisch-reflexiv daraufhin zu beurteilen, ob es konkrete, oder auf Basis neuer Erkenntnisse beruhenden Wissens, negative Wirkungen auf das Lernhandeln oder das soziale Beziehungsgefüge zur Folge haben kann. Sie kennzeichnet Herausforderungen, die auf die nicht gelungene Integration einzelner Gruppenmitglieder hinweisen. Deren Folgen zeigen sich vielfältig:
- als beeinträchtigter Lernerfolg,
- als „störendes Handeln“,
- als psychischer oder physischer Leidensausdruck,
- im schlimmsten Fall als Vermeidung vollendeter Isolation.
Diese Phänomene fordern zu aktivem und integrativem pädagogischen Handeln und zu Veränderungen in den institutionellen Abläufen und deren formaler Organisation heraus.
Vielfaltssensible Pädagogik
Wenn ich spüre, wie anders Du bist,
erfahre ich zugleich mich selbst als einen anderen.
(Richard Sennett. Respekt im Zeitalter der Ungleichheit.)
Vielfaltssensible Pädagogik stellt sich konkreten – immer unterschiedlichen – Lebenslagen und Lernvoraussetzungen. Diese werden als interessante, akzeptable, tragfähige und gerechte Erfahrungs- und Lernzusammenhänge umgesetzt. Dazu identifizieren Pädagoginnen beobachtetes Handeln, kommunizieren es und setzen Veränderung situativer Kontexte demokratisch auf Augenhöhe um. Gelungene Inklusion wird wesentlich auf veränderte Haltungen und spezifisch informiertes Handeln gegenüber Unterschieden gelebter Werte und individueller Dispositionen, deren Ausdruck, sowie der Art und Weise mit Differenz umzugehen, beschrieben.
Sennett (2012, 345f.) hat darauf hingewiesen, dass Kooperation mit dem Engagement der verantwortlichen Akteure beginnt, die sich Problemen und Herausforderungen aktiv zuwenden und nicht warten, bis diese auf sie zukommen. Kooperatives Handeln ist daher mit integrativer Arbeit gleichzusetzen. Die Qualität integrativer Arbeit beweist sich darin, im Handeln anderer Menschen grundsätzlich rationale Handlungsmomente (Wertorientierungen, Zielgerichtetheit, Planmäßigkeit) aufzuspüren. Ihre Handlungen werden als kreative Antworten auf Lebenssituationen gesehen. Alle Menschen werden also auf der jeweiligen Stufe ihrer Entwicklung – also ihrer Fähigkeit, in mehr oder weniger komplexen Plänen zu denken und zu handeln – als kompetent angesehen. Die Suche nach der Anpassung an immer neue Zusammenhänge und die Verbesserung der Teilhabe aller Akteure erfordert die Akzeptanz kognitiver, sozialer, physischer und ästhetischer Vielfalt. Diese ist systematisch und organisatorisch abzusichern.
Die vielfaltssensible Arbeit definiert sich daher durch modifizierbare Rahmungen, die Mehr-perspektivität, Heuristik, Interpretation und eine immer vorläufig-beschreibende Planung (Page, 2007, S. 103f.) garantieren. Ziel ist die Erarbeitung von Veränderung und Vielfalt stützenden Funktionen und Prozessen. Neue Variablen und Modelle müssen die bestehende Praxis immer dann modifizieren können, wenn aus- und eingrenzende Wirkungen geltender Modelle, Programmierungen und Beschreibungen benannt und erkannt werden und deren Fähigkeit, Vielfalt besser gerecht zu werden, ausgebaut werden kann.
Um die Integrität und Glaubwürdigkeit ihrer Institution und ihre Professionalität aufrecht zu erhalten, sind pädagogische Akteure daher gefordert, sich und ihre Praxis immer selbst auf den Prüfstand zu stellen. Die Zukunftsfähigkeit von Einrichtungen hängt davon ab, sich bedarfsgerecht auf die Diskussion und Folgenabschätzungen für Veränderungsanliegen angemessen einzulassen. Generell bewirken unterschiedliche sozioökonomische Strukturen und Lebenszusammenhänge – also die realen Handlungsmöglichkeiten und -variationen in der Lebenswelt der Menschen – unterschiedliche, mitunter schwer miteinander zu vereinbarende Selbst- und Weltanschauungen. Daher betont Marotzki (2006, S. 173), dass Bildung letztlich gerade darin besteht, andere als die eigenen Weltanschauungen anzuerkennen und dabei „grundsätzlich anzuerkennen, dass diese nicht restlos anzueignen und zu integrieren sind.“ Eine Umgebung, die Vielfalt unterstützt, ist je nach Zusammensetzung und Dynamik der Gruppe und der Lernvoraussetzungen ihrer Mitglieder immer wieder neu zu bestimmen und prozessual anzupassen.
Pädagogische Akteure müssen dazu von einer relativen Fremdheit der Handlungspläne – der mentalen Modelle für Welt und Beziehungen – der ihnen anvertrauten Menschen ausgehen, wenn sie diese nicht reduziert auf rollenmäßig definierte Art und Weise wahrnehmen wollen. Bezogen auf die Vielfaltssensibilität ist immer davon auszugehen, dass Situationen nicht nur auf Grund einer sozialkulturellen Perspektive anders geordnet sind. Jede Wahrnehmungs-perspektive – das ist vor allem bei Beeinträchtigungen und Schädigungen der Fall – ist nach anders strukturierten mentalen Handlungsmustern geordnet, steht für eine andere Biographie. Daher müssen Lehrerinnen und Lehrer im Bewusstsein arbeiten, andere Merkmale wahrzunehmen und verändertes Handeln qualitativ in Bezug zu sich und der von ihnen verantworteten Situation zu setzen.
Es mag paradox erscheinen, ist aber eine anthropologische Tatsache, dass die Kenntnis der allgemeinen Entwicklungslogik ein hilfreicher Schlüssel zu vermehrter Vielfaltssensibilität sein kann. Jean Piaget und Alexej Leontjev haben in der Differenzierung struktureller und qualitativer Merkmale der menschlichen Aneignungstätigkeit Entwicklungsstufen heraus-gearbeitet, die auch als aufeinander aufbauende Handlungspläne bzw. mentale Schemata oder Modelle thematisiert werden (ausführlich etwa bei Jetter, 2013). Dabei handelt es sich um Resultate eines Aneignungsprozesses, der auf der Ebene des psychologischen Verhaltens eine Fortsetzung der biologischen Assimilitation darstellt (Furth, 1976, S. 55). Alle Handlungspläne sind qualitative Erweiterungen und Verknüpfungen angeborener Saug-, Greif- und Sehpläne.Diese entwickeln sich in der Kooperation von Menschen am gemeinsamen Gegenstand. Bisweilen – und das war immer Aspekt der kritischen Sonderpädagogik – müssen Voraussetzungen für die Kooperation als Ausbau von Dispositionen für Kooperationsfähigkeit planmäßig vorbereitet werden. Das Entdecken von Fähigkeiten oder Dispositionen des Gegenübers setzt voraus, das pädagogische Akteure einfach beginnen, mit dem Kind zu handeln. Es geht also um den Einstieg in einen vorher nicht zu sichernden Erkenntniszirkel, denn Tatsachen über die mentalen Modelle anderer Menschen sind uns nicht direkt zugänglich, sondern nur über gedeutete Aktionen bzw. Handlungen.
Sennett hat dazu einen weiteren wichtigen Aspekt herausgestellt. Handlungswissen geht in Unterstützungszusammenhängen immer mit der Bereitschaft von Akteuren zusammen, selbst an unvertrauten situativen Bedingungen zu lernen und vorgängige Fremdheit zu akzeptieren. Schüler, Klienten und Patienten wissen, so Sennett, „Dinge über Lernen oder Kranksein, von denen der Lehrer oder Arzt gar keine Ahnung haben.“ (2002, S. 150). Die Autonomie der Schwächeren sieht er als „mächtiges Instrument zur Förderung von Freiheit“ (ebd., S. 151), da sie beeinträchtigten Menschen ihre Würde belässt. Gewährleistet wird diese Autonomie über positive Bindungs- und Kontrollerfahrungen immer dann, wenn Lernpartner als kooperierende Menschen gesehen, und wenn das Arbeitsbündnis durch Zusammenarbeit gekennzeichnet ist (ebd., S. 318).
Vielfaltssensible Gestaltungen der Praxis unterstützen nun einige Perspektiven, die über heuristische pädagogische Sichtweisen hinausweisen. Bei der Gestaltung inklusiver pädagogischer Situationen und Orte darf nicht von einer institutionell vordefinierten, prästabilisierten Kooperationsfähigkeit ausgegangen werden. Von Diversität auszugehen heißt vielmehr, die Voraussetzungen und Determinanten für gemeinsames Leben und Lernen gezielt zu erkennen, zu gewichten, sie durch (beeinträchtigungs-) spezifische Informationen zu entwickeln und ihre Entwicklung zu unterstützen. Es wird also davon ausgegangen – nach Piagets Dialektik – sowohl Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten wahrzunehmen und zu verantworten, um Gemeinsamkeit in Vielfalt zu gestalten.
Vielfaltssensible Praxis
Konkretheit, weil das Konkrete etwas Elementares ist,
weil es das ist, was die Realität real,
lebendig, persönlich und bedeutsam macht.
Dies alles geht verloren,
wenn sich das Verständnis für das Konkrete verliert
(Sacks, 1987, S. 231)
Strategisch richtet sich ein Vielfaltsmanagement in pädagogischen Zusammenhängen auf die rationale Erarbeitung einer Absicherung von informierten Gestaltungsprozessen mit dem Ziel, Akteure darin zu unterstützen, gemeinsam Orte zu verantworten, an denen alle Beteiligten:
- sich sicher, wohl und angenommen fühlen;
- sich selbst und gegenseitig respektieren und wertschätzen lernen;
- sich in ein demokratisches Profil der Einrichtung einbringen;
- ihre Potentiale erkennen und einbringen;
- Verantwortung für sich und die Einrichtung übernehmen;
- zu einer gelebten Gleichwertigkeit beitragen und von ihr profitieren;
- mit Konflikten ohne diskriminierendes Handeln und Zuschreibungen umgehen.
Die Absicherung der Unterstützung von Vielfaltssensibilität erfordert Beobachtungs- und Kommunikationsinstanzen, die einen reflexiven Umgang der Akteure mit ihrem pädagogischen Handeln erlauben. Dazu benötigen sie räumliche, zeitliche und personelle Ressourcen. Neben den alltagsbegleitenden Reflexionsmöglichkeiten müssen geäußerte Fortbildungs- und Entwicklungsbedarfe, die sich auf Empfindungen zunehmend schwieriger werdenden Umganges mit Klienten berufen und sich in Unsicherheit, Ratlosigkeit und Ängsten äußern, ressourcenorientiert bedacht werden. Wenn pädagogische Teams ihre Handlungsfähigkeit nicht intersubjektiv absichern können, besteht die Gefahr, dass frustrationsgesteuerte und Vielfalt einengende Deutungsmuster das Klima von Institutionen negativ beeinflussen und deren Ziele gefährden können.
Einem pädagogisch verstandenen Diversity-Ansatz geht es nicht um das einseitige Üben oder Einüben von Toleranz, sondern um die Etablierung einer Praxis der gegenseitigen Anerkennung und des aktiven Umgangs mit Differenz und Fremdheit. Die Aktivität richtet sich selbstreflexiv an die einzelnen Akteure, die ihre Normalitätsvorstellungen gemeinsam kritisch auf Ausgrenzungs- und Diskriminierungsaspekte hinterfragen müssen. Sie richtet sich weiter auf die Gewährleistung von Handlungszusammenhängen, die absichern, dass professionell mit integrativem Anspruch arbeitende Menschen beobachteten Schwierigkeiten nicht ausweichen, sondern diese aktiv aufsuchen: „Die Wendung nach außen ist eine Voraussetzung für Charakter und Verständnis, für ein neues Verhältnis zu anderen Menschen […]“ (Sennett, 2002, S. 290).
Hier ergeben sich Chancen zu lernen. Es geht darum, selbst als Mensch immer wieder weiter zu werden und nicht in ein zementiertes Adaptionsverhältnis gegenüber sozialen Realitäten zu verfallen: „Es geht aus der Perspektive des Vielfaltsmanagements nicht um die Anderen, es geht immer auch um Dich!“
Desiderate für Bildungskontexte
Ich halte jedes Leben für hinreichend interessant,
um anderen mitgeteilt zu werden.
(Maxie Wander. Guten Morgen, Du Schöne.)
Daraus leiten sich Desiderate für die Bildung und Fortbildung pädagogischen Personals ab. Wenn es pädagogischen Akteuren darum gehen soll,
- Potentiale zu unterstützen,
- angesichts von Beeinträchtigungen und Schädigungen eine informierte Entwicklungs-orientierung zu gewährleisten,
- Selbstwerterleben zu unterstützen,
- Arbeitsbündnisse auf Augenhöhe als Grundlage für gemeinsames Handeln zu gestalten,
dann müssen sie von Beginn ihrer Ausbildung an erleben:
- dass Teilhabe der Gruppenmitglieder eine Aufgabe integrativen Handelns ist,
- dass Halt-Geben und Sicherheit-Gewährleisten zum Bestandteil des pädagogischen Aufgaben-Portfolios gehören,
- dass an Fallbeispielen reflexiv gelernt werden kann, die eigene – immer folgenreiche – Praxis erkannt werden kann,
- dass sprachliche Sorgfalt, leichte Sprache und kooperatives Handeln grundlegend für ein gemeinsames Leben und Lernen sind.
Eine solche Orientierung zwingt PädagogInnen geradezu – hier nehme ich einen Gedanken von Sacks (1990) auf – sich an das Konkrete zu halten, es zu leben und zu erforschen. Tests und konfektionierte Programme scheinen pädagogische Landschaften zu ökonomisieren und sie übersichtlich zu machen. Tatsächlich machen sie Menschen aber „lächerlich unzugänglich“. Sie führen uns Schemata vor, während es für eine menschliche Lern- und Lebenspraxis darauf ankommt, immer wieder zu erkennen, wie Menschen spontan, auf ihre je eigene Weise, nach ihren Dispositionen handeln: es geht darum ihre Musik, Rhythmen, Geschichten, Spiele, Kulturen zu begreifen und in Resonanz zu gelangen. Damit Tätigkeiten mit Sinn – mit Bezug auf zunächst kleine Ganzheiten – verstanden werden können.
Sollten Sonderpädagogiken eines Tages in einer Allgemeinen Pädagogik, – die Anerkennung und Teilhabe beeinträchtigter Menschen gewährleistet, – aufgehen, dann über eine Zuwendung zum konkreten Miteinanderhandeln: also in der Anerkennung auch nicht formaloperationaler Denk- und Handlungsmuster als wertvolle Denk- und Teilhabemuster.
Dass hier die romantische Wissenschaft Lurijas (1993) als Bindeglied ins Spiel kommt, ist kein Zufall. Auch dieser hatte gewarnt, Tendenzen der Reduzierung des Lebens auf mathematische Schemata (Testergebnisse) zu reduzieren und vielmehr die Geschichten in und zwischen den Menschen als psychologische Aufgabe zu sehen.
Literatur
- Algermissen, U. (2012): Pädagogische Arbeitsbündnisse Kooperativ Gestalten: Untersuchungen zum gemeinsamen Handeln mit sozialemotional herausfordernden Kindern in der Grundschule. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
- Furth, H. G. (1976): Intelligenz und Erkennen: Die Grundlagen der genetischen Erkenntnistheorie Piagets. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
- Gerspach, M. (2000): Einführung in pädagogisches Denken und Handeln. Stuttgart: Kohlhammer.
- Jetter, K. (2013 [Orig. 1985]): Leben und arbeiten mit behinderten und gefährdeten Säuglingen und Kleinkindern. Berlin: epubli.
- Krell, G. et al. (Hrsg.) (2007): Diversity Studies. Grundlagen und disziplinäre Ansätze. Frankfurt am Main: Campus.
- Laing, R. D. (1989): Das Selbst und die Anderen. München: Dt. Taschenbuch-Verl.
- Leontjew, A. N. (1980): Probleme der psychischen Entwicklung. Königsstein: Athenäum.
- Lurija, A. R. (1993): Romantische Wissenschaft. Forschungen im Grenzbereich von Seele und Gehirn. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt.
- Marotzki, W. (2006): Sinn – Ein kostbares Interaktionsresultat in Prozessen der Biographisierung. In: Eggert-Schmid Noerr, A. (Hrsg.): Lernen, Lernstörungen und die pädagogische Beziehung (Bd. 22, S. 162 – 175). Gießen: Psychosozial.
- Oevermann, U. (1996): Theoretische Skizze einer revidierten Theorie professionalisierten Handelns. In: Combe, A. & Helsper, W. (Hrsg.): Pädagogische Professionalität (S. 70 -182). Frankfurt/Main: Suhrkamp.
- Page, S. E. (2007): The Difference. Princeton and Oxford: Princeton University Press.
- Sacks, O. (1990): Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt.
- Schmitt, C., Tuider, E. &Witte, M. D. (2015): Diversity Ansätze – Errungenschaften, Ambivalenzen und Herausforderungen. In: Sozialmagazin, Heft 9/10, S. 7–13.
- Schröer, H. (2015): Diversity und interkulturelle Öffnung. In: Sozialmagazin, Heft 9/10, S. 30 – 36.
- Sennett, R. (2002): Respekt im Zeitalter der Ungleichheit. Berlin: Berlin-Verlag.
- Sennett, R. (2012): Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält. Berlin: Hanser.
Über den Autor
Dr. Ulf Algermissen: Dr. phil., Rektor einer Förderschule, Schwerpunkt: soziale und emotionale Entwicklung; Hochschullehrer (Allgemeine Behindertenpädagogik), Stiftung Universität Hildesheim, Institut für Erziehungswissenschaft, Abteilung Angewandte Erziehungswissenschaft. Kontakt: dr.ulfalgermissen@gmail.com