Diversity als pädagogische Herausforderung aus osteuropäischer Sicht

By Michail Pevsner | December 22, 2016

Zusammenfassung: Im Artikel werden Schwerpunkte der pädagogischen Metatheorie der Vielfalt in Bildungssystemen als ein neues Forschungsfeld im internationalen Vergleich betrachtet. Heutzutage gibt es in verschiedenen Ländern zahlreiche Studien, die spezifische Umgangsformen mit unterschiedlichen Dimensionen der Vielfalt untersuchen. Der Autor analysiert den erziehungswissenschaftlichen Übergang der postsowjetischen Länder von der Vielfalt der spezifischen pädagogischen Konzepte, Modelle und Strategien zur Entwicklung einer komplexen Metatheorie der Vielfalt.
Die Metatheorie entwickelt sich unter dem Einfluss der theoretischen Studien amerikanischer und westeuropäischer Wissenschaftler sowie dank intensiver internationaler Projektarbeit, in die Russland und andere osteuropäische Länder stark involviert sind. Im Artikel wird eine transdisziplinäre Methodologie als wissenschaftstheoretische Grundlage dieser Metatheorie vorgeschlagen. Diese Herangehensweise geht über die Grenzen der interdisziplinären Zusammenhänge zwischen Fachdisziplinen hinaus und setzt eine komplexe Untersuchung der Vielfalt in Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft und in Bildungssystemen voraus. Im Artikel werden die wichtigsten Postulate der Metatheorie betrachtet, wie u.a. eine breite philosophische und pädagogische Vision der inklusiven Bildung, eine institutionelle Vielfalt der Bildungseinrichtungen, die mit Heterogenität umgehen, die Erziehung zur „vernünftigen“ Toleranz, die der absoluten Toleranz gegenübergestellt wird.
Schlüsselwörter: Vielfalt, Metatheorie der Vielfalt, Diversity Management, Toleranz.

Summary (Mikhail Pevsner: Diversity as a pedagogical challenge from an Eastern European perspective): The article considers major elements of the pedagogical metatheory of diversity in educationa systems as a new area of research by international comparison. Nowadays there are numerous studies in various countries that examine specific ways of dealing with different dimensions of diversity. The author analyzes the educational transition of post-Soviet countries from the diversity of specific pedagogical concepts, models and stratgies to the devlopment of a complex metatheory of diversity. The development of this metatheory is influenced by American and Western European researchers’ theoretical studies, as well as intensive project work in which Russia and other Eastern European countries are heavily involved. In the article a transdisciplinary methodology is suggested as the scientific foundation of this metatheory. This approach surpasses the limits of interdisciplinary connections between subject disciplines and requires a complex examination of diversity in society, culture, science, and economic and education systems. The article looks at the most important posits of metathory, for example: a broad philosophical and pedagogical vision of inclusive education, organizational diversity of educational institutions which deal with heterogeneity, education for „rational“ tolerance as opposed to absolute tolerance.
Keywords: diversity, metatheory of diversity, diversity management, tolerance

Резюме (Михаил Певснер: Разнообразие как педагогическая задача с восточно-европейской точки зрения): Статья посвящена ведущим идеям и ценностно-смысловым установкам метатеории многообразия в образовательных системах, представляющей собой новое направление в отечественной и зарубежной науке. Автор отмечает необходимость перехода на современном этапе развития педагогической науки от отдельных педагогических направлений, концепций и моделей к целостной метатеории многообразия. Данная метатеория формируется как под влиянием теоретического наследия ученых США и стран Западной Европы, так и благодаря активной международной проектной деятельности, в которую активно включаются Россия и другие страны Восточной Европы.
В качестве методологической основы фундаментальной педагогической теории многообразия автор предлагает трансдисциплинарную методологическую стратегию, для которой характерен переход от междисциплинарного подхода к трансдисциплинарному, охватывающему взаимодействие не только между конкретными научными дисциплинами, но и исследование феномена управления многообразием в социуме, экономике, культуре, науке в целом и в образовательных системах в частности. В статье раскрываются идеи метатеории многообразия, ведущими из которых являются: широкое философско-педагогическое понимание инклюзивного образования, институциональное многообразие учреждений, осуществляющих обучение и воспитание представителей различных гетерогенных групп, формирование у учащихся разумной толерантности, которая выступает антиподом абсолютной толерантности.
Ключевые слова: Многообразие, метатеория многообразия, менеджмент многообразия, толерантность


Es ist eine schwierige Aufgabe, theoretische Ansätze von osteuropäischen Wissenschaftlern bezüglich Diversity in der Erziehungswissenschaft darzulegen. Die Komplexität der Fragestellung besteht darin, dass sich die politische Situation in der Welt heute anders darstellt, als in den Jahren der Gründung der International Academy for the Humanization of Education (IAHE). Osteuropäische Länder sind nun weitgehend politisch, ideologisch und wirtschaftlich gespalten. Trotzdem versuche ich, hier gemeinsame pädagogische Ideen herauszuarbeiten, die Pädagogen der osteuropäischen Länder zusammenbringen. Einen besonderen Akzent werde ich jedoch auf die Auffassungen der russischen Wissenschaftler legen.

Bekanntlich stehen pädagogische Theorien unter dem Einfluss vielfältiger gesellschaftlicher Prozesse. Jede Gesellschaft, unabhängig von kulturellen und historischen Besonderheiten, sozialer Struktur, politischem System sowie Gesellschaftsordnung, ist durch Vielfalt gekennzeichnet. Die Vielfalt bezieht sich auf Individuen, Kulturen, Gruppen, politische Parteien, ideologische und philosophische Einstellungen, Verhaltensmuster, Werte und Traditionen. In Bezug auf menschliche Beziehungen schildert der amerikanische Forscher Thomas das Problem der Vielfalt in einer Fabel über den Elefanten und die Giraffe.

Die beiden Tiere hatten unterschiedliche Vorstellungen über ein gemütliches und komfortables Haus, je nach ihren individuellen Eigenschaften. Als die Giraffe ihren Nachbarn, den Elefanten, einlud, ihr schönes Haus mit hohen Decken und einer hohen Eingangstür zu besuchen, passte der Elefant nicht in die Eingangstür und konnte deshalb das Haus nicht betreten. Da gab die Giraffe ihrem Nachbarn den Tipp, täglich ins Fitnessstudio und abends zur Ballettstunde zu gehen, um abzunehmen. Der traurige Elefant stimmte ungern den Vorschlägen des Nachbarn zu, dachte aber, dass das für die Giraffe konstruierte Haus nie für einen Elefanten passen wird. (Thomas, 1996, S. 79f.).

Mittels der in dieser Fabel verwendeten Symbolik stellt Thomas die Unterscheidung zwischen „Normalen“ und „Anderen“ in Frage. Der Autor plädiert für Diversity, wobei er die “Norm” und das “Anderssein” als soziale Konstrukte kennzeichnet.

Anders ausgedrückt, kann Diversity als ein objektiv bestehendes Phänomen – trotz der unterschiedlichen Einstellungen seitens einfacher Menschen und herrschender Eliten in verschiedenen historischen Epochen – betrachtet werden. Ausgehend von der gesellschaftlichen Entwicklung wurden die Einstellungen zur Vielfalt einerseits von der Tendenz der Demokratisierung und Humanisierung und andererseits von der Tendenz der Zentralisierung und Standardisierung geprägt. Im Rahmen der ersten Tendenz strebte die Gesellschaft nach einer Erweiterung der Vielfalt und des Kulturpluralismus und akzentuierte dabei die Heterogenität als eine positive Erscheinung, als eine Triebkraft der gesellschaftlichen Entwicklung. Das Motto der Demokratisierungstendenz ist das Postulat „je mehr Vielfalt, desto besser für die Gesellschaft“. Im Rahmen der Zentralisierungstendenz zielen Gesellschaft und Staat auf eine Begrenzung der Vielfalt, weil sie neben ihren Stärken auch eine große Gefahr für soziale Stabilität, einheitlichen Bildungsraum und kulturelle Identität beinhaltet.

Die oben erwähnten Tendenzen der Demokratisierung und Standardisierung streben heutzutage einen Kompromiss in Bezug auf Vielfalt an, die sich sowohl in der gesamten Gesellschaft, als auch im Bildungsbereich findet. Der Sinn dieses Kompromisses kann darin bestehen, die Vielfalt in der Gesellschaft und Bildung anzuerkennen und gleichzeitig zu lernen, mit dieser Vielfalt sowohl mit politischen als auch mit pädagogischen Mitteln umzugehen und sie zu managen. In der Erziehungswissenschaft wirkte sich dieser Kompromiss auf die Entwicklung einer Metatheorie der Vielfalt aus.

Heutzutage gibt es in osteuropäischen Ländern mehrere Studien, die unterschiedliche pädagogische Interaktionsmodelle mit Fokus auf kulturelle, ethnische, religiöse, mentale und soziale Vielfalt untersuchen. Ausgehend von diesen Studien entspricht jeder Dimension der Vielfalt, die objektiv in der Gesellschaft existiert, ein besonderes pädagogisches Konzept, dessen Entwicklung sowohl neue politische und pädagogische Gegebenheiten, als auch individuelle Auffassungen der Wissenschaftler beeinflussen. So finden individuelle und gruppenbezogene Dimensionen der Vielfalt ihren Ausdruck in der didaktischen Vielfalt der Bildungssysteme, Modelle und Lernstrategien. Diesen Konzepten liegt das Prinzip der Differenzierung und Individualisierung zugrunde.

Soziale Differenzen riefen die Erweiterung der institutionellen Vielfalt im Bildungsbereich hervor. Anstelle einer einförmigen Schule der Sowjetepoche entstanden in der Perestroika-Zeit unterschiedliche Arten und Formen der Bildungseinrichtungen. In Russland wurden Gymnasien und Lyzeen sowie auch sogenannte Autorenschulen“ aufgrund innovativer pädagogischer Konzepte eingerichtet. Bekannt wurden die Autorenschulen sowohl durch die Namen ihrer Begründer, z.B. die „Schule von Karakovskji”, die „Schule von Jamburg”, als auch durch ihre pädagogischen Kernideen, die den Schulprofilen zugrunde lagen, z.B. die „Schule der Selbstbestimmung” (Tubelskij, 1991), die „Schule des entwickelnden Unterrichts” (Davydov, 1996), die „Schule des Dialogs der Kulturen“ (Bibler, 1997; Kurganov, 1989).

Im Mittelpunkt zahlreicher Forschungen steht die kulturelle Vielfalt als Bestandteil des Weltkulturerbes, die für die Menschheit genauso wichtig ist wie die biologische Vielfalt für die Natur. Die Entwicklung der kulturellen Vielfalt in der Gesellschaft kam in verschiedenen Konzepten der multikulturellen Bildung und Erziehung zum Ausdruck, die in der russischen Pädagogik Ende des XX. bis Anfang des XIX. Jahrhunderts verbreitet waren. Der Fachausdruck „multikulturelle Bildung“ verdrängte alte Termini der Sowjetzeit wie „proletarischer Internationalismus“ und „internationale Erziehung“, die zu stark ideologisch belastet waren. Die Beliebtheit der multikulturellen Konzepte in den post-sowjetischen Ländern war auf das Streben der Völker nach ethnischer und kultureller Identität, sowie auf die Integration dieser Staaten in dem einheitlichen europäischen Kultur- und Bildungsraum zurückzuführen. Dank dieser Entwicklungen haben die Schüler neue Kompetenzen im Bereich Kultur erworben, ihre Vorstellungen von der kulturellen Vielfalt erweitert, sich die Fähigkeiten der interkulturellen Kommunikation und Interaktion angeeignet.

Eine der wichtigen Pflichten einer menschenfreundlichen Gesellschaft ist die Sorge für die Individuen mit besonderen Bedürfnissen. Es geht vor allem um die Menschen mit Beeinträchtigungen, mit Behinderung, Migranten, Flüchtlinge, Vertreter der ethnischen Minderheiten. Im Mittelpunkt der pädagogischen Bemühungen stehen auch Individuen mit Auffälligkeiten und Abweichungen (minderjährige Rechtsbrecher, Strafgefangene u.a.). Strategien des pädagogischen Umgangs mit diesen Gruppen sind in der Sonderpädagogik, der integrativen Pädagogik und der „Pönitentiarpädagogik“ (d.h. einer Pädagogik, die sich mit der Erziehung und Umerziehung von Menschen im Strafvollzug beschäftigt) fachspezifisch beschrieben.

Alle obengenannten erziehungswissenschaftlichen Konzepte haben nur zum Teil das Problem des Umgangs mit Heterogenität gelöst, aber grundsätzliche Fragen blieben offen:

  • Warum besteht bis heute in der Gesellschaft und in der Schule Angst vor der Vielfalt?
  • Kann diese Angst mit pädagogischen Mitteln überwunden werden?
  • Kann die Vielfalt in der Gesellschaft und in Bildungssystemen gemanagt werden?
  • Wenn ja, wie sehen dann konzeptionelle Rahmen und Strategien des Diversity Managements aus?

Diese offenen Fragen soll die Metatheorie der Vielfalt beantworten, die heutzutage in den osteuropäischen Ländern erst in der Entwicklungsphase ist. Der Bedarf an der Entwicklung einer Metatheorie wird von verschiedenen gesellschaftlichen, politischen und pädagogischen Faktoren bedingt, wie zunehmende interne und externe Migration, starker Zufluss von Flüchtlingen aufgrund politischer Spannungen in mehreren Regionen der Welt, Konflikte in der multikulturellen Gesellschaft zwischen ethnischen und konfessionellen Gruppen, Verbreitung des Rechtsextremismus und Nationalismus.

Ausgehend von den obengenannten Voraussetzungen ist für die aktuelle erziehungs-wissenschaftliche Entwicklung in osteuropäischen Ländernder Übergang von den einzelnen pädagogischen Sonderkonzepten der Vielfalt zu einer holistischen Metatheorie der Vielfalt ausschlaggebend. Die Metatheorie entwickelt sich sowohl unter dem Einfluss der einschlägigen Forschungsarbeiten der amerikanischen und westeuropäischen Wissenschaftler, als auch dank intensiver internationaler Projektarbeit, in die in den letzten Jahrzehnten Russland, Weißrussland und andere Länder Osteuropas aktiv involviert wurden.

Als eine wissenschaftstheoretische Grundlage der pädagogischen Metatheorie wird die transdisziplinäre Methodologie vorgeschlagen. Diese Herangehensweise geht über die Grenzen der interdisziplinären Zusammenhänge zwischen Fachdisziplinen (z.B. Pädagogik und Management) hinaus. Sie setzt eine komplexe Untersuchung der Vielfalt in Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft und in Bildungssystemen voraus. Ich werde nun auf die Kernideen und Schwerpunkte dieser Metatheorie eingehen.

1. In dieser Metatheorie wird die Vielfalt als ein widersprüchliches Phänomen betrachtet, einerseits als wichtiger Wert für Gesellschaft und Bildung, andererseits als Herausforderung, mit der soziale Institutionen und Bildungseinrichtungen konfrontiert werden. Schür (2013, S. 9) meint: „Heterogenität wird mittlerweile sowohl in politischen wie wirtschaftlichen Kontexten, längst aber vor allem in der Pädagogik, tendenziell positiv konnotiert“. In vielen Sprachen kann man heute die Aussagen treffen wie “Vielfalt bewältigen” oder „Vielfalt zügeln“. Adorno (1944, S. 113) meinte, dass die Gesellschaft einen Zustand erreichen soll, in dem die Menschen keine Angst haben werden, anders als andere zu sein. Heute spricht man oft über die Träume von einer Gesellschaft, in der die Menschen keine Angst haben werden, mit „Anderen“ zusammen zu leben. Aus der Sicht der Pädagogik sind pädagogische Bemühungen wichtig, die zum Aufbau einer Gesellschaft beitragen, in der die Menschen keine Angst haben werden, sowohl anders zu sein, als auch mit den Anderen zusammen zu leben.

2. Zu den Grundlagen der Metatheorie gehört eine breite Vision der inklusiven Bildung, die über die Grenzen der Inklusion von Menschen mit Beeinträchtigungen hinausgeht und alle Gruppen in die Lehr- und Lernprozesse einbezieht. Diese Vision verlangt von den Lehrenden das sogenannte Capability Approach einzusetzen, denn sie werden in der Praxis nicht mit einer bestimmten Art der Heterogenität konfrontiert, sondern sie müssen alle heterogenen Schüler- und Studentengruppen (Studierende mit unterschiedlicher Herkunft und Kultur, mit verschiedenen Begabungen, Vorlieben, Gesundheitszustand) begleiten. Dabei können die obengenannten Aspekte der Vielfalt in verschiedenen Kombinationen auftreten, z.B. körperliche Behinderung und Hochbegabung. Deshalb soll die Metatheorie als eine wissenschaftliche Basis in der Aus- und Weiterbildung von Pädagogen dienen, die befähigt sein sollen, mit Vielfalt in ihrer vollen Komplexität umzugehen.

3. Aus der Perspektive der Metatheorie ist die inklusive Bildung keinesfalls ein mechanischer Prozess. Es ist deswegen erforderlich, besondere materielle, technische, personelle und soziale Bedingungen zu schaffen, um Studierende mit besonderen Bedürfnissen in die Lehr- und Lernprozesse erfolgreich einzubeziehen. Die Metatheorie plädiert für die institutionelle Vielfalt der Bildungseinrichtungen für heterogene Gruppen. Die inklusive Schule soll auf keinen Fall das bestehende System der Sonderschulen ruinieren. In diesem Sinne kann man kaum den Konzeptionen der Lehrerbildung zustimmen, die z.B. in Österreich implementiert werden. Die Ausbildung von Sonderpädagogen an Universitäten wurde dort eingestellt, was in der Zukunft möglicherweise zum Abbau der Sonderschulen, ja sogar jeglicher sonderpädagogischen Kompetenz führen wird. Diese Strategie widerspricht den Prinzipien der Pädagogik der Vielfalt, die eine inklusive Schule und eine Sonderschule als sich gegenseitig ergänzende Systeme betrachtet, die die Bildungsbedürfnisse aller Kinder und ihrer Eltern berücksichtigen. Deshalb bleibt das Sonderschulsystem in Russland, Weißrussland und in der Ukraine erhalten, obwohl auch in diesen Ländern der Trend des Übergangs zur inklusiven Bildung deutlich zu sehen ist.

4. Eine der Hauptideen der Metatheorie bleibt nach wie vor die Erziehung zur Toleranz gegenüber den Vertretern anderer Kulturen, die unterschiedliche Mentalitäten, Weltanschauungen, Denkweisen, Lebensstile, ethnische Besonderheiten sowie religiöse Ansichten haben. Dabei ist zu bemerken, dass in der letzten Zeit in Russland eine auffallende Verschiebung in Bezug auf Toleranz und Einstellung zur Toleranz in der sozialen Gesinnung festgestellt werden kann. Neben der positiven Einstellung kann man mittlerweile in der Öffentlichkeit und in den Massenmedien häufig vorsichtige, skeptische und sogar ironische Bemerkungen finden. Diese deutlich bemerkbaren Veränderungen im gesellschaftlichen Bewusstsein sind auf folgende Gründe zurückzuführen: die Krise des Multikulturalismus in den westeuropäischen Ländern, der islamische Extremismus, die internationale Terrorgefahr, das Streben nach Aufrechterhaltung traditioneller Familienwerte.

Die unterschiedlichen Einstellungen zur Toleranz kann man am folgenden Beispiel veranschaulichen:

Eine Gruppe ausländischer Wissenschaftler betrat den Waggon eines ICE-Zuges, der vom Flughafen Düsseldorf nach Bielefeld fuhr. Ein Teil der Fahrgäste döste nach einem langen Flug. Viele waren in ihre Arbeit mit Tablets und Laptops vertieft. Die anderen unterhielten sich leise zu verschiedenen Themen. In diesem Moment stürmte in den Waggon eine Gruppe, die zu einer anderen Kultur gehörte. Die Angehörigen dieser Gruppe begannen laut Musikinstrumente zu spielen und unterschiedliche Sprüche zu rufen, um die Aufmerksamkeit der Fahrgäste auf sich zu ziehen und Geld zu erbetteln.

Wie sieht in dieser Situation eine angemessene Reaktion der Fahrgäste aus pädagogischer Perspektive aus? Es sind zwei Handlungsmuster möglich. Muster 1: Die Fahrgäste tadeln das Verhalten unerwünschter Passagiere, die gegen die öffentliche Ordnung verstoßen, geben ihnen kein Geld und bitten den Schaffner den Waggon von den lauten Musikanten zu befreien. Muster 2: Die Fahrgäste zeigen Toleranz gegenüber den Ausländern, sie erkennen kulturelle Unterschiede an und betrachten die laute Musik und auffälliges Verhalten als Attribute einer anderen Kultur. Sie unterstützen die Musikanten auch finanziell, weil sie meinen, dass diese sich in einer schwierigen Situation befinden.

Welches Verhaltensmuster haben die Fahrgäste in der Realität gewählt? In der realen Situation wurde das Muster 2 vorgezogen. An dieser Stelle soll betont werden, dass die gegenwärtige russische Pädagogik die Erziehung zur absoluten Toleranz nicht vollständig akzeptiert. In diesem Zusammenhang wurde in die wissenschaftliche Terminologie ein neuer Fachausdruck eingeführt, „vernünftige“ Toleranz. Die vernünftige Toleranz zur kulturellen Vielfalt setzt bestimmte Grenzen und moralische Normen voraus, die sozialen Konformismus und Gleichgültigkeit gegenüber moralischen Werten verhindern. Die vernünftige Toleranz kann als ein Antipode für eine absolute Toleranz gelten.

5. Neben der Pädagogik ist das Diversity Management zweiter Bestandteil der Metatheorie. Aus der Sicht des Diversity Managements, das heute schon in vielen heterogenen Organisationen umgesetzt wird, ist die Frage entscheidend, wie man die Heterogenität betrachten soll – als Chance oder Gefahr? Wenn eine Organisation Heterogenität als Entwicklungsressource betrachtet, wird sie individuelle Potenziale der Mitarbeiter identifizieren und diese effektiv für die Ziele der Organisation entwickeln. Um diese Potenziale zu erkennen und effektiv zu nutzen, muss man die Organisationskultur ändern und ein inklusives Milieu in den Organisationen schaffen. Als Beispiel kann man viele Hochschulen Ost- und Westeuropas anführen, die heute zu multikulturellen Bildungseinrichtungen werden und den ausländischen Studierenden vielfältige Bildungsprogramme anbieten.

Beispielsweise studieren an der Staatlichen Universität Nowgorod 550 Studenten aus 50 Ländern der Welt. Der Anteil nichtrussischer Studenten beträgt etwa 7% der gesamten Studentenzahl. Die Inklusion der ausländischen Studierenden ist ein wichtiger Aspekt der Bildungspolitik der Universität Nowgorod. Das Niveau der universitären Organisationskultur und das soziale Klima an der Hochschule hängen davon ab, wie erfolgreich die internationalen Studierenden im inklusiven Milieu integriert werden und ob sie mit der Qualität der Lehre und den Wohnbedingungen im Gastland zufrieden sind.

Diversity Management an der Hochschule wird mit einigen Dilemmata konfrontiert:

  • Sollen vorhandene Differenzen bewahrt werden oder soll man versuchen sie aufzuheben, um alle Studierenden in einen einheitlichen Bildungsraum der Hochschule zu integrieren?
  • Sind Konzepte wie Chancengleichheit und Antidiskriminierung für alle Studierenden und Mitarbeiter ausreichend? Oder muss man Unterschiede nutzen, um eine erfolgreiche Entwicklung der Hochschule abzusichern?
  • Soll man die Unterschiede markieren oder eine öffentliche Markierung vermeiden, weil sie mit der Diskriminierungsgefahr verbunden ist?

Das letzte Dilemma soll an einem Beispiel veranschaulicht werden. Wenn wir die Studenten darauf aufmerksam machen, dass sie sich um einen Studenten mit einer Behinderung kümmern sollen, kommt das den Studierenden nicht unbedingt zugute. Die öffentliche Markierung der Unterschiede des Studenten mit Besonderheiten kann ihn stigmatisieren und indirekt zu seiner Diskriminierung führen. Die Aufgabe des Diversity Management ist, solche Dilemmata konstruktiv zu lösen.

Bei der Umsetzung des Diversity Managements in den Organisationen sind drei Konzepte zu unterscheiden, die fast autonom in West und Ost entstanden sind. Sie thematisieren den Umgang mit Heterogenität auf unterschiedliche Weise als Antidiskriminierungskonzept, als pragmatisches Konzept und als entwickelndes Konzept. Das Antidiskriminierungskonzept plädiert für eine formelle Chancengleichheit für alle sozialen Gruppen, die ihnen die Teilnahme an verschiedenen Aktivitäten der Organisation ermöglichen soll. In solchen Organisationen gibt es keine Diskriminierung bezüglich der Herkunft und Kultur, des Geschlechts und Alters usw. Vertreter der Minderheiten können zu Führungskräften werden. Ihre Gleichberechtigung ist aber eher deklariert als realisiert, denn es werden nicht die erforderlichen Bedingungen geschaffen, um individuelle Potenziale der Mitarbeiter zugunsten der Organisation zu nutzen.

Gemäß dem pragmatischen Konzept sollen die spezifischen Besonderheiten der Mitarbeitergruppen für die Bedienung bestimmter Marktsegmente genutzt werden. Die Hauptidee des Konzeptes besteht darin, dass Produktion, Vertrieb und Marketing dank kultureller, psychologischer und religiöser Nähe der Mitarbeiter und der Kunden Gewinn bringend sein sollen. So können zum Beispiel die Mitarbeiter türkischer Herkunft die Bedürfnisse und Nachfragen die Kunden aus Tadschikistan besser befriedigen, weil sie aus der Perspektive des pragmatischen Konzeptes deren Geschmack, Vorlieben und Wünsche berücksichtigen können. Die Frauen als Mitarbeiterinnen sind in der Lage die Erwartungen der Kundinnen besser als Männer zu prognostizieren. Im Hinblick auf die Hochschule empfiehlt das pragmatische Konzept z.B. den ausländischen Medizin-Studenten, sich bei den Ärzten weiterzubilden, die ihre Landsleute sind. Der Nachteil dieses Konzeptes ist die Gefahr der Separation der Mitarbeiter innerhalb ihrer sozialen Gruppe und der Isolierung von der dominierenden Kultur.

Das entwickelnde Konzept zielt darauf, individuelle Potenziale der Mitarbeiter zu erkennen und zugunsten der Organisation weiterzuentwickeln. Die Vielfalt wird in diesem Konzept als Entwicklungsressource betrachtet. Die Implementierung dieses Konzeptes setzt den Aufbau vernetzter Weiterbildungssysteme voraus, um auf die Interessen, Neigungen und Begabungen der Teilnehmer Rücksicht nehmen zu können. Außerdem gewährleistet die Realisierung des entwickelnden Konzepts die Vorteile der Unternehmen im Konkurrenzkampf auf dem Weltmarkt, denn multikulturelle Organisationen sind innovativer, flexibler und kreativer im Vergleich zu monokulturellen Organisationen.

Zusammenfassend möchte ich an dieser Stelle folgendes betonen: Die Metatheorie der Vielfalt, die heute in osteuropäischen Ländern erst in der Entwicklungsphase ist, bildet den konzeptionellen Rahmen für den Aufbau einer inklusiven Gesellschaft in diesen Ländern, die auf den Idealen des Humanismus und sozialer Gerechtigkeit basiert und die Vielfalt als Wert anerkennt.

Literatur

  • Adorno, Theodor W.  (1944): Minima Moralia. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Schür, S. (2013): Umgang mit Vielfalt. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
  • Steinmetz, B. & Vedder, G. (2007): Diversity Management und Antidiskriminierung. Weimar: Bertuch Verlag.
  • Thomas, D. A. & Ely, R. J. (1996): Making Differences Matter. In: Harvard Business Review, Vol. 74 (1996) no. 5, pp 79-91.
  • Thomas, R. Roosevelt (1991): Beyond race and gender. Unleashing the power of your total work force by managing diversity. New York: AMACOM
  • Библер, В.С. [Bibler, V.S.] (1997): На гранях логики культуры: Книга избранных очерков [On the faces of the logic of culture: Book of selected essays]. Москва.
  • Давыдов, В.В. [Davydov, V.V.] (1996): Теория развивающего обучения. [The theory of developmental education] Москва: ИНТОР.
  • Курганов, С.Ю. [Kurganov, S. Yu.] (1989): Ребёнок и взрослый в учебном диалоге: Кн. для учителя. [Child and adult in the school dialogue: Bk. for teachers. ] Москва: Просвещение.
  • Тубельский, А. Н. [Tubelskiy, A.N.] (1991): Школа самоопределения: первый шаг [School of self-determination: the first step …](Из опыта работы коллектива школы № 734 в первом экспериментальном учебном году). — В 2-х ч. — Москва.

Über den Autor

Prof. Dr. Michail Pevsner: Erziehungswissenschaftler an der Staatlichen Universität Nowgorod namens Jaroslaw-der-Weise; Prorektor für internationale Angelegenheiten; Vizepräsident der „International Academy for the Humaniziation of Education (IAHE)“. Kontakt: pev-nov@mail.ru

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