Zusammenfassung: Der folgende Beitragi befasst sich mit Geben, Gabe und Gabentausch als relevante gesellschaftliche Funktionen und schließt theoretische Überlegungen zur Bedeutung von Gabe und Gabentausch für Bereiche von Sozialität und Erziehung ein. Positive und negative Reziprozität im Gabentausch wird unterschieden und die Bedeutung von Gabentausch zur Etablierung von sozialen Anerkennungsverhältnissen berücksichtigt. Möglichkeiten der Konfliktbearbeitung werden hervorgehoben. Aspekte von Empathie und Compassion werden betont. Überlegungen zur Entwicklung einer entsprechenden Praxis im Bereich schulischer Erziehung und Lehrerbildung werden zur Diskussion gestellt mit der Frage, ob „Gabentausch als Paradigma für Bildungsprozesse“ betrachtet werden kann.
Schlüsselwörter: Gabe, Gabentausch, Erziehung, Sozialität, Reziprozität, Compassion, Empathie, Anerkennung
Summary (Beatrix Wildt & Johannes Wildt: Gift exchange as a paradigm for educational processes?) The following contribution deals with giving, gift and gift exchange as relevant societal functions and includes theoretical deliberations on the meaning of gift and gift exchange for the areas of sociality and education. Positive and negative reciprocity in gift exchange is differentiated, and the significance of gift exchange for establishing of social is considered. Possibilities for conflict resolution are highlighted. There is an emphasis on aspects of empathy and compassion. Considerations for the development of a respective praxis in the area of school-based education and teacher education are discussed with the question of whether „gift exchange as a pardigm for educational processes“ is a viable consideration.
Keywords: Gift, gift exchange, education, sociality, reciprocity, compassion, empathy, recognition
Резюме (Беатрикс Вильдт & Йоханнес Вильдт: Дарение как парадигма для образовательных процессов?): Даная статья посвещена дарению и дарам как важным социальным функциям и представляет теоретические размышления на тему значимости дарения для воспитания и социализации. Различаются позитивная и негативная взаимность в обмене дарами, а такжк утверждается значимость дарения для установления уважительных взаимоотношений. Подчёркивается потенциал к решению конфликтов, к эмпатии и состраданию. Обсуждается возможность развития соотвествующей практики в области школьного образования и педагогической подготовки. Ставится вопрос о том, может ли обмен дарами восприниматься как образовательная парадигма.
Ключевые слова: дар, дарение, воспитание, социализация, взаимность, сострадение, эмпатия, взаимоуважение
1. Einleitung: Bedeutungen des Gebens, der Gabe und des Gabentauschs für Erziehung und Bildung und die Fragestellungen für den vorliegenden Beitrag
Die Allgegenwart und Bedeutung des Gebens zeigt sich in der deutschen Spracheetwa im Gebrauch von Präfixen (vor-, zu-, ein-, aus-, auf-, ab-, nach-, her-, zurückgeben). Geben ist Leit-Verb für Handeln in nahezu allen Lebensbereichen und kennzeichnet in vielfältiger Weise existentielle Aspekte menschlichen Seins und das Zwischenmenschliche in seiner fundamentalen Bedeutung und Vielfalt. Dass etwas vom zutiefst Eigenen und Persönlichen – manchmal bis an die Grenzen des Möglichen – in bestimmten zwischenmenschlichen Beziehungen ‚gegeben‘ werden kann bzw. wird, zeigt sich zudem in Verbindungen mit dem Wort ‚sich‘: etwa ‚sich ergeben‘, ‚sich hingeben‘, ‚sich aufgeben‘ oder ‚sich anheimgeben‘. Aspekte des Gebens zeigen sich auch in Ausdrücken wie: das Leben geben, zu essen und zu trinken geben, einen Platz (Wohnstatt, Heim, in der Gemeinschaft) geben, einen Namen geben, die Hand geben, einen Auftrag geben, ein Versprechen geben, einen Arbeitsplatz geben, Zeugnis geben (bezeugen), ein Fest geben, eine Vorstellung (Idee, Theater oder auch Alltagsinszenierung) geben, Verantwortung geben, zu denken geben, die Freiheit geben.
Es handelt sich hier allerdings nicht allein um ein spezifisches Geben, sondern immer auch ein entsprechendes Nehmen, existentielle Bedingungen zwischenmenschlicher Beziehungen, um Handeln mit bedeutsamen „Wirkungen“ oder „Wechselwirkungen“. Dieses hat bereits Simmel – einer der Gründerväter der deutschen Soziologie – herausgearbeitet und analysiert. Er schreibt: „‘Geben‘ erscheint als eine der stärksten soziologischen Funktionen. Ohne dass in einer Gesellschaft dauernd gegeben und genommen wird – auch außerhalb des Tausches – würde überhaupt keine Gesellschaft zustande komme!“ Und weiter: „so ist jedes Geben eine Wechselwirkung zwischen dem Gebenden und dem Empfangenden“ (Simmel, 1908, hrsg. von O. Rammstedt, 1992). Es geht Simmel um fundamentale soziale und gesellschaftliche Funktionen und Prozesse des Gebens und Nehmens und damit verknüpfte individuelle und kollektive Abhängigkeiten, ihre Bedingungen, Erscheinungsformen und Wirkungen. Geben, Annehmen, Erwidern und Weitergeben bilden ein Geflecht komplexer Wechselwirkungen. Dabei geht es nicht nur um Geben und Nehmen, Erwidern oder Weitergeben, sondern durchaus darum, was in welcher Absicht und mit welcher Zielsetzung wann und wie und mit welchen Wirkungen gegeben wird.
Als Gabe(n) werden materielle oder immaterielle ‚Gegenstände‘ betrachtet, die in einer bestimmten Absicht gegeben und angenommen werden. Als Ding, als Handlung, als Geste, als Ausdruck, Metapher und/oder Symbol sind Gaben verknüpft mit bestimmten Gedanken, Gefühlen, Ideen und Motiven, mit denen sich die Beteiligten aufeinander beziehen. Dieses soll im Rahmen des folgenden Beitrags näher betrachtet werden. Dabei wird auf den Gabentausch im Sinne eines Gebens, Nehmens und Erwiderns von Gaben fokussiert sowie auf Austauschprozesse und Bedingungen, die für Bildung und Erziehung von Bedeutung sind bzw. sein können. Wesentlich ist, dass das Gegebene als Gabe auch zu verstehen ist und nicht etwa als Ware, für die andere Bedingungen und Zielsetzungen gelten. Insofern sind auch Unterschiede zwischen Gabe und Ware, Gaben- und Warentausch zu berücksichtigen. Von Gabe- und Gabentauschtheoretikern werden unterschiedliche Aspekte des Gebens, Nehmens und Erwiderns akzentuiert, die im Rahmen von Gabentausch und Ware-Geld-Beziehungen wirksam werden, dazu gehören etwa das Verhältnis von Subjekt und Objekt, die Bedeutung von Freiheit und Entfremdung, von Identität und Selbstbestimmung, von Reziprozität und Anerkennung und von Macht und Herrschaft in Gabentausch- und Warentauschbeziehungen.
Grundsätzlich beinhaltet Gabentausch in der Gesellschaft nicht nur positive Möglichkeiten der sozialen Anerkennung und Identitätsbildung, von sozialer Verständigung und Bindung – um nur einige der positiven Aspekte zu erwähnen –, sondern es geht auch um Aspekte der möglichen Verkennung der Absichten des Anderen, der Verweigerung der Beziehungsaufnahme, der Ablehnung von Integrationsbemühungen oder um Elemente der verdeckten oder unmittelbaren Machtausübung, der Konkurrenz der Beteiligten und auch der Illusionsbildung im Kontext des Gebens, Nehmens und Erwiderns von Gaben. So sind etwa Möglichkeiten der Einsicht in bestimmte Prozessbedingungen, der Einflussnahme und der Selbstbestimmung der am Gabentausch Beteiligten nicht nur unterschiedlich. Der tatsächlich vorhandene oder auch mögliche Handlungsspielraum der beteiligten Akteure ist im Geflecht sozialer, ökonomischer, politischer und rechtlicher Beziehungen oftmals schwierig auszumachen. Vielfach existiert eine unübersichtliche Gemengelage von verschiedenen Interessen, Handlungsmöglichkeiten und Konfliktlagen, die das Handeln (wie auch das Nicht-Handeln) einzelner Akteure (Individuen und Gruppen) unsicher und füreinander mehr oder weniger schwer kalkulierbar machen, Möglichkeiten der Einschränkung von Handlungsrisiken sind vielfach begrenzt und zudem den Intentionen eines Gabentauschs entgegengesetzt.
Dennoch beinhaltet der Gabentausch positive Möglichkeiten der Beziehungsgestaltung und ein entsprechendes Veränderungspotential, die bzw. das es für Bildung und Erziehung zu entdecken und zu nutzen gilt. Es müssen dazu grundlegende psychologische, ökonomische, politische, soziale und kulturelle Zusammenhänge berücksichtigt werden, die im positiven wie im negativen Sinne Einfluss auf den Gabentausch haben. Im Rahmen des vorliegenden Beitrags geht es zunächst um ein allgemeines Verständnis von Gabe und des Austausches von Gaben im Gabentausch. Besondere Aspekte der Empathie, des Mitleids und der fürsorgenden Verantwortungsübernahme, von Reziprozität und der wechselseitigen Anerkennung der Beteiligten werden hervorgehoben, Möglichkeiten der Bearbeitung von Konfliktsituationen zur Herstellung von Vertrauen, Freundschaft und sozialer Gerechtigkeit aufgezeigt und mit Blick auf Erziehung und Lehrerbildung zur Diskussion gestellt.
2. Zentrale Aspekte von Gabe und sozialen Beziehungen im Gabentausch
Die Bedeutung des Gebens, des Nehmens und Erwiderns im Sinne einer Gabentauschbeziehung braucht zunächst ein Verständnis dessen, was Gabe sein kann und welche Bedeutungen sie im Rahmen von Austauschverhältnissen gewinnen kann.
2.1 Gabe und Gabentausch in Diskursen verschiedener Disziplinen
Grundsätzlich ist festzuhalten, dass Gabe weder die bloße Handlung des Gebens noch einfach ein Ding oder ein immaterieller Gegenstand ist, sondern dass etwas zur Gabe wird durch bestimmte Bedingungen und Rahmungen des Gebens und Nehmens und Erwiderns. Dabei stehen die unmittelbar Beteiligten mit ihren besonderen Interessen, Motiven und Einstellungen, Bedürfnissen, Vorstellungen und Möglichkeiten nicht nur für sich, sondern zugleich für Gruppen in der Gesellschaft, denen sie sich als zugehörig betrachten bzw. zu denen sie als zugehörig betrachtet werden und an deren Stelle sie handeln. Beziehungen und Aspekte des Gabentauschs im Kontext unterschiedlicher Sozialitäten (primärer Sozialität als Nahbeziehung und sekundärer Sozialität als Beziehung im öffentlich-politischen Raum und Bereich der Institutionen) betont beispielsweise Caille (2005; 2008) aus soziologischer und kulturanthropologischer Sicht. Adloff & Mau (2005 a/b) befassen sich mit reziprozitätstheoretischen Untersuchungen und verknüpfen soziologische und ökonomische Gesichtspunkte des Gabentauschs vor dem Hintergrund und in Verbindung oder in Abhebung von Ware-Geld-Beziehungen. Die reziproke Handlung des Tauschs lässt sich entweder auf die Ware oder die Gabe als das Dritte beziehen und zudem können die beteiligten Akteure einer Tauschdyade zu einem weiteren Dritten in Beziehung treten bzw. in Beziehung gesetzt werden und verändern somit den jeweiligen Charakter des Tauschs.
Theorien des Dritten in Soziologie und Sozialphilosophie sind nachzulesen beispielsweise bei Bedorf (2010) der insbesondere ethische Fragen berücksichtigt. Eßlinger et al. (2010) dagegen eröffnen den kulturwissenschaftlichen Blick auf die Figur des Dritten und stellen unter dieser Perspektive unterschiedliche Theorieansätze vor. Besonders hervorzuheben ist, dass mit der Einführung und Berücksichtigung des Dritten in sozialen Beziehungen die ganz praktische Möglichkeit der Veränderung dichotomer Rollen- und Denkmuster entsteht. Das ermöglicht beispielsweise in sozialen Konfliktsituationen eine Abkehr von Freund-Feind-Schemata in Denken und Handeln und kann bzw. soll am unten ausführlicher dargestellten Beispiel des Gabentauschs verdeutlicht werden. Die Komplexität der Beziehungsgestaltung im Gabentausch wird von Henaff`(2009; 2014) mit Blick auf basale theoretische Ansätze in der Philosophie umfassend herausgearbeitet. Auch in diesen Zusammenhang wird die Figur des Dritten wichtig.
Breithaupt (2012) verbindet das psychologische Konstrukt der Empathie unter einer kulturwissenschaftlichen Perspektive mit der Gabentauschthematik und betont die Notwendigkeit der Verknüpfung von Empathie und Compassion (engl. Fachterminus: compassion), damit Gabe und Gabentausch im positiven Sinne möglich werden. Einige dieser Ergebnisse können bzw. könnten für die Entwicklung eines erziehungswissenschaftlichen Diskurs zum Gabentausch genutzt werden.
2.2 Aspekte der Empathie und der Mitleidskonzeption für Gabentauschprozesse.
Wie Breithaupt betont, spielen Aspekte der Empathie, nämlich die Fähigkeit sich in die Lage eines anderen hineinzuversetzen und sich selbst im Spiegel der Anderen bzw. aus dessen Perspektive zu sehen, im Kontext des Gabentauschs eine nicht unwesentliche Rolle (Breithaupt, 2012, S. 109ff ). Dieses beruht durchaus nicht allein auf kognitiven Fähigkeiten, sondern auch auf Empfindungen und Gefühlen, die das Verstehen des Eigenen und des Fremden mitbedingen bzw. erst ermöglichen. Empathie, die Fähigkeit sich beim Anblick oder in der Vorstellung des Anderen in dessen Lage hineinversetzen zu können und in seinen Befindlichkeiten zu verstehen, ist nicht zu verwechseln mit dem, was als Mitgefühl (compassion) oder auch als Mitleid bezeichnet wird. Dieses entsteht aus eigener Leidensfähigkeit und der Anerkennung des Anderen als ähnlich (oder gleich) und ist eng verknüpft mit moralischen Gefühlen und Überzeugungen. Mitgefühl und Mitleid in kontrollierter (vernünftiger) Weise zugelassen, wird schon bei den alten Römern als Tugend (Seneca) bezeichnet und ist seit der Antike Gegenstand komplexer literarischer, theologischer und wissenschaftlicher Abhandlungen (Rombach und Seiler, 2009) gewesen. Auch heute sind entsprechende ‚Tugenden‘ und Möglichkeiten eines (moralisch) guten und gerechten Handelns Gegenstand öffentlicher Debatten, etwa wenn es beispielsweise im Zusammenhang mit der europäischen Flüchtlingsfrage darum geht, angemessene politische und zivilgesellschaftliche Antworten und entsprechende Lösungen und Handlungsmöglichkeiten zu finden.
Empathie selbst kann ohne Mitgefühl und mitleidslos sein, allein der manipulativen Einflussnahme auf Meinungen und Vorstellungen anderer zum Zwecke des eigenen Vorteils dienen, compassion (hier: Compassion) aber kann niemals unempathisch sein. Empathie in Verbindung mit Compassion und der Anerkennung der Gleichheit oder Ähnlichkeit des Anderen ist Voraussetzung dafür, die „richtigen“ Antworten auf moralisch drängende Fragen zu geben. In dieser Hinsicht können insbesondere Beiträge von Kohlberg (1996) und Kohlberg et al. (1986), Edelstein & Nunner-Winkler (1986), Honneth & Rössler (2008) herangezogen werden, um soziale Anerkennung, Toleranz und interpersonelles Verstehen im Kontext von Erziehung und Bildung zu fördern und im Rahmen einer Praxis des Gabentauschs umzusetzen. Breithaupt (2012) selbst arbeitet nicht nur Unterschiede und mögliche Verknüpfungen von Empathie und Mitleid in Bezug auf Gabentauschprozesse heraus (ausführlicher zur Mitleidsfrage Harbsmeier & Möckel, 2009), sondern er verweist auch auf mögliche Zusammenhänge von auf Antipathie und Hass als reziproke Elemente in Gabentauschprozessen.
2.3 Positive und negative Reziprozität im Gabentausch und die Freiheit der Subjekte
Wie bereits angedeutet gibt es nicht nur positive Möglichkeiten des Gabentauschs. Handeln kann auch in diesem Kontext darauf gerichtet sein, eigene Vorteile zu erhöhen und die von konkurrierenden Anderen (um begrenzte Ressourcen beispielsweise) zu vermindern oder gar aufzuheben. Empathisches Vermögen (ohne Mitgefühl und Mitleid) kann Handeln in diesem Sinne effektiver machen. Auch aggressives Potential kann destruktiv eingesetzt und gesteigert werden. Das heißt, negative Affekte und egoistische und destruktive Handlungsweisen können – sofern sie entsprechend erwidert und bestätigt werden – Prozesse negativer Reziprozität in Gang bringen oder in Gang halten. Gabentausch ist also nicht per se positiver Natur, sondern es sind negative Einstellungen und Motive, Gedanken und Affekte denkbar, die aggressive und destruktive Impulse und Handlungen freisetzen können. Umgekehrt können aber auch destruktive Tendenzen unterbrochen und eine positive Reziprozität in Gang gebracht werden (siehe dazu weiter unten).
Die grundsätzliche Freiheit des Gebens und Nehmens im Gabentausch bedeutet nicht die Freiheit zu unbegrenzter Aggressivität und Destruktivität, sondern es geht dabei um die Freiheit der Entscheidung, Aggression und Destruktion nicht zu zulassen oder diese zu beenden; Ergebnisoffenheit ist zugleich Risiko und Chance. In anerkennungstheoretischer Perspektive (etwa Honneth, 1992; Honneth et al., 2002; Plumpe, 2002) wichtig ist, ob und inwieweit die Handelnden als Gebende, Nehmende und Erwidernde oder auch als in der Gabe selbst Gegebene, Subjekt des eigenen Handelns sind. Individuen, die innerhalb gegebener und zu gestaltender (d.h. auch zu verändernder) sozialer, kultureller, rechtlicher, politischer und wirtschaftlicher Beziehungen in Austausch treten bzw. an diesem beteiligt sind, können in ihrer eigenen Subjekthaftigkeit und Identität im Gabentausch bzw. Gabentauschbeziehungen bestätigt oder eingeschränkt und beschädigt werden. Beteiligte sind in dem Maße in ihrer Subjekthaftigkeit eingeschränkt, in dem sie nicht oder nur unzureichend über Bedingungen des Tauschs verfügen und in der Entscheidung über Inhalte und Formen des eigenen Gebens, Nehmens und Erwiderns unfrei sind; entweder weil bestimmte Handlungsoptionen durch mächtige Andere beeinflusst sind oder weil sich die Beteiligten über die (wahren) Bedingungen des Austauschs und ihre eigene Rolle dabei täuschen oder täuschen und instrumentalisieren lassen. Entsprechend können Gabe und Gabentauschbeziehungen durch zweckhaft-utilitaristische Einflüsse von Ware-Geld-Verhältnissen mehr oder weniger korrumpiert sein, wie Bourdieu (1987; 2005) in seinen Schriften nachzuweisen versucht. Ob Gabe und Gabentausch deshalb allein außerhalb ökonomischer Austausch- und Nutzenverhältnisse existieren kann oder Gabe im Grunde gänzlich unmöglich ist (Derrida, 1993), wird von anderen Theoretikern zurück gewiesen (hier insbesondere Caille, 2008; Bedorf, 2010a/b und Henaff, 2009; 2014); allerdings wird auch seitens dieser Autoren nicht bezweifelt, dass ökonomische und politische Macht- und Herrschaftsbedingungen, Gabentauschbeziehungen negativ beeinflussen können. Es geht also nicht darum, solche Aspekte, die Gabentausch beeinflussen, zu ignorieren, sondern darum, Gabe und Gabentausch in seinen Grundlagen und Bedeutungen im Verhältnis zu Ware-Geld-Beziehungen zu erfassen. Wir selbst unterstellen, dass im Maße der bewussten und verantwortlichen Gestaltung verschiedener Austauschrelationen, (Selbst-)Veränderungen der Beteiligten und soziale, kulturelle, politische und ökonomische Veränderungen im Sinne eines guten und gelingenden Lebens möglich sind und Hoffnungen, Wünsche und Perspektiven, die im Gabentausch zum Ausdruck kommen, auch und gerade im öffentlichen Raum positive Wirkungen entfalten können (siehe dazu die Beispiele unten).
2.4 Gabe und verschiedene Bereiche und Bedingungen des Tauschs
Festzuhalten ist, dass im Gabentausch die Selbstbestimmungsmöglichkeiten der Beteiligten beachtet werden müssen. Das betrifft nicht nur die Frage, ob gegeben oder angenommen und erwidert wird, sondern auch die Zeitpunkte und die Art des Gebens und Erwiderns sowie des Weitergebens und schließlich die Art der Gabe und der Gegengabe. Um aber überhaupt von einer Gabe sprechen zu können, kann diese – abgesehen von bestimmten rituellen Gabentauschaktionen – nicht unmittelbar erwidert werden, sondern zwischen dem Geben, Annehmen, Erwidern und erneut Annehmen (im Gabentauschzyklus) muss eine gewisse Zeit verstreichen. Gabe die direkt mit einer Gegengabe beantwortet würde, wäre als Gabe entwertet bzw. würde eher als Ware gelten und der Vorgang als Warentausch entsprechend klassifiziert werden. Gabentausch findet im Prinzip zwischen zwei Akteuren bzw. in einer dyadischen Beziehung statt, auch wenn ein Drittes als relevante Bezugsgröße berücksichtigt werden muss (etwa Bröckling, 2010; Fischer, 2010; Koschorke, 2010; Lenz, 2010; Lindemann, 2010). Im Warentausch kann die Ware „Geld“ als das relevante Dritte und ökonomische Transaktionen als ein multipler triadischer Prozess betrachtet werden(Priddat, 2010). Im Sinne intergenerativer Gabentauschverhältnisse etwa in der Familie (Hollstein, 2005) oder auch Schule und Lehrerbildung, kann Gabe angenommen und im Sinne eines eigenen Beitrags (der mit der ersten Gabe nicht identisch ist) an Dritte (zu einem späteren Zeitpunkt weitergegeben werden (beispielsweise: „Was ich von meinen Eltern erhalten habe, gebe ich an meine Kinder weiter!“). Dabei handelt es sich vielfach nicht um Materielles, sondern auch und besonders um immaterielle „Güter“.
Die Gabe (etwa ein symbolisches Gut, ein Vermögen in nicht materiellem Sinne) wie auch die Gegengabe bzw. zweite Gabe im Gabentauschzyklus wird grundsätzlich von den Beteiligten, Gebenden und Erwidernden selbst bestimmt; das heißt, sie entscheiden, was „Gabe“ oder „Gegengabe“ ist bzw. sein soll, ob, wie und wann sie gegeben und genommen oder weitergegeben werden (soll), es wird darüber nicht verhandelt und die Bedingungen werden nicht vertragsmäßig festgelegt. Auch das unterscheidet Gabentausch vom Warentausch und Kauf, wo nicht nur unmittelbar wechselseitig gegeben und genommen wird, sondern auch die Bedingungen des Warentauschs und Kaufs in einem Kontrakt rechtlich bindend festgelegt werden. Das gilt für Qualität und Quantität der Güter sowie den zu zahlenden Preis und erwartete Austauschprozeduren, Zeitrahmen bzw. Zeitpunkte des Austauschs sowie die von den Beteiligten anzuerkennenden Sanktionsmöglichkeiten im Falle der Nichterfüllung des Vertrages. Frei sind im Ware-Geld-Verkehr die Beteiligten nur insofern sie einen Vertrag aus freien Stücken eingehen, der zugleich festlegt, was dann bindend ist. Andererseits sind auch die Beteiligten im Kontext des Gabentausches in ihrer Freiheit des Gebens und Nehmens durch bestimmte Konventionen und soziale Erwartungen, Regeln und Normen gebunden. Wenn diese nicht berücksichtigt werden, eine Gabe in ihrer Bedeutung nicht erkannt oder zurückgewiesen wird oder auch unbeantwortet bleibt wird das nicht sanktioniert, hat aber Folgen für die (weitere) Beziehung im Sinne der Gestaltung der Wechselseitigkeit. Im Fall des Ware-Geld-Austauschs ist das Nicht-Einhalten von Vereinbarungen sanktioniert und kann gemäß vorhandener, gesetzlicher Regelungen geahndet werden. Das heißt, es gelten sowohl für den Gabentausch wie den Warentausch bestimmte Regeln und normative Erwartungen, deren Nicht-Erfüllung negative Konsequenzen haben. Dabei spielen Handlungsspielräume der Gebenden und Nehmenden, ihre Absichten und ihre Zurechnungsfähigkeit, insbesondere die mögliche Bezugnahme auf ein Drittes (Regel, Norm, Gesetze) bzw. auf Dritte (Beobachter, Richter, Schlichter, Vertreter einer Institution) eine wichtige Rolle. Das heißt, es wird berücksichtigt, ob es den Beteiligten um Gegenseitigkeit (Reziprozität) oder Wechselseitigkeit (Mutualität) geht, die Beteiligten mehr oder weniger abhängig oder unabhängig, mächtig oder weniger mächtig, selbstbestimmt oder fremdgesteuert, im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte waren bzw. sind oder nicht, wenn es darum geht, Tauschprozesse und beteiligte Personen zu beurteilen.
Für den intergenerativen Gabentausch bei dem die Beteiligten (nicht nur die Nachgeborenen) die Reichweite des eigenen und fremden Handelns nur bedingt bzw. erst schrittweise erkennen und verstehen (können), sind individuelle Entwicklungen und gesellschaftliche Wandlungsprozesse und Möglichkeiten eines nicht ohne weiteres erkennbaren Neuen zu berücksichtigen und entsprechende Spielräume für Handeln entsprechend den sich wandelnden Möglichkeiten der Beteiligten offenzuhalten. Wenn beispielsweise Handlungsmöglichkeiten noch nicht erwachsener Personen oder auch von Personen mit geistigen Behinderungen nur in einem eingeschränkten Maße gegeben oder durch enggesteckte Konventionen, Vorurteile und Denkroutinen eingeschränkt sind, dann mag es sein, dass Forderungen nach Selbstbestimmung und Freiheit im Gabentauschverhältnis nur begrenzt tragfähig sind. Allerdings sind auch in Ware-Geld-Beziehungen Selbstbestimmungsmöglichkeiten Einzelner begrenzt, werden Illusionen der Freiheit individuellen (Konsum-)Handelns manipulativ erzeugt und ist die Verkennung realer Beziehungen von Gebenden und Nehmenden Gegenstand kritischer Betrachtungen. Es geht deshalb grundsätzlich um Möglichkeiten der Aufklärung und Ent-Täuschung. Die illusionslose Nutzung des Gabentauschs als Element des „Kampfes um Anerkennung“ setzt nicht nur auf Möglichkeiten der Aufklärung, sondern auf die Ausnutzung von Handlungsspielräumen für individuelles und kollektives Handeln durch die Herstellung von positiver Reziprozität des Gebens, Nehmens, Erwiderns und Weitergebens. Dabei werden Vertrauen gestärkt, Freundschaft und Kooperation positiv akzentuiert, das Eintreten für Gerechtigkeit und soziale Anerkennung verdeutlicht und konstruktive Möglichkeiten der Konfliktbearbeitung und eines friedlichen und ‚ertragreichen‘ Miteinander ergriffen und honoriert (Adloff & Sigmund, 2005; Lessenich & Mau, 2005; Karagiannis, 2005).
3. Geben, Nehmen und Erwidern als ‚test of humanity‘ auf der Grundlage von Empathie und positiver Reziprozität
Mit Blick auf Gabentauschverhältnisse ist aus unserer Sicht festzustellen, dass, unabhängig davon, unter welchen ökonomischen, kulturellen und sozialen Bedingungen Personen leben und welche Optionen und Möglichkeiten sie haben, um bewusste und reflektierte Entscheidungen zu treffen, der Wille zu einer positiven Annahme und sozialen Anerkennung des Anderen als gleich im Sinne gleicher Würde und mit fundamentalen Rechten ausgestattet, zentrale Bedeutung für das Gelingen eines Gabentauschs im Sinne positiver Reziprozität hat. Dabei hat die Gabe als ein Drittes im Verhältnis von Gebenden und Nehmenden eine zentrale Funktion für die Bestätigung von Absichten, insbesondere zur Veränderung von (zukünftigen) Handlungsmöglichkeiten; ebenso spielen gesellschaftliche Rahmungen und Bezugsgrößen (als weitere Dritte) eine zentrale Rolle, die die am Gabentausch beteiligten ‚Akteure‘ aus problematischen ‚Verstrickungen‘ hinausführen können. Mit anderen Worten es geht um die Auflösung dyadischer Konstellationen und Beziehungen über die (gedankliche oder faktische) Einbeziehung eines Dritten, der oder das in verschiedenen Triaden in Erscheinung treten und neue Handlungsperspektiven und -möglichkeiten für die Beteiligten eröffnen kann(etwa Bedorf et al., 2010; Henaff, 2014, S. 216 – 249).
Mit Blick auf das zentrale Beispiel (unten 3.2) ist zudem zu beachten, dass Gabe und Geben freiwillig erfolgen, ebenso Erwiderung und Gegengabe. Im Sinne einer moralisch bewerteten Gabe-Handlung wird von Gebenden und Nehmenden bzw. Erwidernden nicht nur Empathie und Mitgefühl oder Mitleid erwartet, sondern auch reflexive Distanz. Zentral ist dabei nicht nur die Anerkennung des Anderen in seiner (Mit-)Menschlichkeit und Verletzbarkeit, sondern auch die Anerkennung basaler, universeller Rechte. Freiheit (der Entscheidung) kann durch mächtige Personen oder Gruppen gewährt oder von diesen verlangt werden. Die hierzu notwendige Haltung und die Bereitschaft im Sinne eines Guten und Gerechten zu handeln und Verantwortung für das Eigene und das Gemeinsame zu übernehmen, kann im Rahmen der Gabentauschverhältnisse allerdings weder verordnet, noch erzwungen oder durch Überredung (manipulativ) erreicht werden; vielmehr würde dieses die Basis dessen zerstören, was Gabentausch bewirken soll und kann. Allerdings geht es in keinem Fall um die unbegrenzte Freiheit von Einzelnen und Gruppen, etwa die Freiheit zur Täuschung und Manipulation des Anderen oder auch der Gewaltandrohung oder -anwendung zur massiven Durchsetzung der eigenen oder auch fremder Interessen gegen die berechtigten Interessen anderer; vielmehr geht es um die Freiheit der Subjekte im Sinne des Lebens und eines gutes Lebens auch des anderen (unter Einschluss einer Perspektive der Gerechtigkeit) zu handeln. Diesem Gedanken der Freiheit und Selbstbestimmung ist das Konzept des Gabentauschs verbunden. Zwar bleibt Gabentausch in dieser Hinsicht immer riskant, dennoch lohnt es sich diese Risiken für positive Veränderungen einzugehen; denn die Gefährdungen liegen vor allem darin, dieses nicht zu tun.ii
3.1 Der einfache Gabentausch-Zyklus im alltäglichen Leben
Im Folgenden geht es darum, Gaben und Gabentausch als Zyklus des Gebens, Nehmens, Erwiderns und (etwa im intergenerativen Zusammenhang) des Weitergebens zu vergegenwärtigen. Die Gabe hier ist nicht allein entscheidend für das Gelingen der Beziehung, sondern es sind – wie bereits erwähnt – die damit verknüpften Gefühle, Gedanken und Absichten des Gebenden, die die Nehmenden verstehen, akzeptieren und selbst entsprechend (positiv) beantworten können.
Wichtig ist, dass Nehmende sich wertgeschätzt und respektiert fühlen und mit der Gabe eigene Wünsche, Bedürfnisse, Interessen und Möglichkeiten berücksichtigt erscheinen. Dieses ist von Gebenden nach Möglichkeit zu beachten und auch seitens der Nehmenden wertzuschätzen. Die Erwiderung der Gabe im Sinne einer Gegengabe (oder einer 2. Gabe) und deren Annahme durch den ersten Geber (siehe Abb. 2) schließt den ersten Zyklus des Gabentauschs.
Möglichkeiten des Austausches materieller und immaterieller Gaben sowie weitere zentrale Aspekte des Gabentauschs: etwa Zeitpunkte des Austausches, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung der Beteiligten und die Bedeutung von individuellen, sozialen, kulturellen, rechtlichen, politischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten und Beziehungen, die den Austausch betreffen, insbesondere Fragen der Empathie und Zuneigung, der positiven (oder negativen) sozialen Beziehungsgestaltung und der Verknüpfung von Gabentausch und Warentausch-Ökonomie bzw. Ware-Geld-Beziehungen sowie die damit einher gehenden Unterschiede der Teilnahme und Partizipation wurden bereits angesprochen. Das folgende Beispiel soll positive Möglichkeiten des Gabentauschs weiter verdeutlichen.
3.2 Gabentausch als test of humanity
Gabentausch als test of humanity ist zu verstehen als Probe und Ausdruck der Humanität des jeweiligen Gegenüber („Sie sind wie ich/wie wir“). Die Humanität der Nehmenden erweist sich hier nicht allein im Geben und in der Art der Gabe, sondern vor allem in der Annahme und in der Erwiderung mit einer entsprechenden Gegengabe. Es geht dabei um Handlungen, die – wie schon gesagt – nicht nur wechselseitig verstanden, sondern die auch unter moralischen Vorzeichen bewertet werden (können). Das heißt, es werden hier belastbare Überzeugungen getestet, um aus der Reaktion und Erwiderung des Gegenübers Schlussfolgerungen mit Blick auf Möglichkeiten zur Fortsetzung der Beziehungen im Sinne positiv (oder negativ) reziproker Handlungen zu ziehen. Dabei wird die Gleichheit oder Andersheit, Ähnlichkeit und Unähnlichkeit des jeweils anderen bestätigt; etwa die Gleichheit im Sinne von (Mit-)Menschlichkeit und Ähnlichkeit im Sinne humanitärer Ansprüche. Das heißt, Gebende wie Nehmende und Erwidernde (als Stellvertreter von Einzelnen und Gruppen) sind – wenn sie den test of humanity bestehen – in der Lage, die Ähnlichkeit und Unähnlichkeit des Anderen als Mensch (in einer bestimmten Lage) zu verstehen, Mitgefühl und Mitleid mit dem leidenden und ungeschützten Anderen zu entwickeln und moralische Gründe für eigenes und fremdes Handeln im Sinne individueller und kollektiver Verantwortung für eigene, fremde und gemeinsame Problemlagen anzuerkennen, humanitäre Gesichtspunkte positiver Reziprozität geltend zu machen und entsprechenden Zielsetzungen im Kontext verschiedener sozialer und gesellschaftlicher Zusammenhänge, die über die Gabentausch-Beziehungen im engeren Sinne hinausweisen, Geltung zu verschaffen.
Auch wenn sich Einzelne engagieren geht es nicht allein um ihre individuellen Vorstellungen, Gefühle, Werturteile und Handlungsmöglichkeiten sowie wechselseitige Beziehungen, sondern immer auch um das, was oben als ‚das Dritte‘ bezeichnet wurde. Es geht um konkretes, in bestimmter Weise wirksames individuelles Handeln innerhalb oftmals komplexer sozialer und gesellschaftlicher Situationen, die auf die individuellen Befindlichkeiten der Einzelnen einwirken bzw. diese bestimmen können. Die einzelnen Akteure sind als Angehörige und Vertreter bestimmter Gruppen, Kollektive, Gemeinschaften, Gesellschaften zu sehen, die sowohl partikulare Interessen vertreten als auch im Sinne universalistischer Ansprüche und Normen (im Sinne eines Dritten) handeln können und zu betrachten sind. Auch und gerade dann, wenn die Beteiligten sich in einer höchst ambivalenten und angespannten sozialen und politischen Konfliktsituation befinden, die sie selbst nur begrenzt beeinflussen können, heißt Geben, Nehmen und Erwidern im Gabentausch, die vorhandenen Möglichkeiten des Gabentauschs und eigene Fähigkeiten und Handlungsspielräume zu nutzen, um Möglichkeiten für Veränderungen auszunutzen und sich durch einschätzbare Risiken des Scheiterns nicht davon abhalten zu lassen. Die praktische Auslotung der „Humanität“ des Anderen bedeutet, dem Anderen die Chance der Gabe oder der Annahme und Erwiderung der Gabe zu geben. Es spielen dabei nicht allein Empathie und Mitgefühl oder Mitleidsfähigkeit eine wichtige Rolle, sondern auch die bewusste Inkaufnahme von Handlungsrisiken, die in der prinzipiell zu ermöglichenden freien Entscheidung des jeweiligen Gegenübers liegen. Die Einschätzung von Handlungsrisiken, die Entwicklung von Empathie und die freie Entscheidung altruistisch und/oder egoistisch zu handeln sind ohne eine Fähigkeit zur reflexiven Distanz nicht möglich und diese sind zusammengenommen die Voraussetzungen dafür den test of humanity durchzuführen und zu bestehen.
4. Beispiele der Gabe und des Gabentauschs als negative und positive Reziprozität
Im Gabentausch stellen sich für die Beteiligten also Fragen des Verhältnisses von Freiheit und Verantwortung, von Bindung und Moral, von Empathie und Mitleid, Nähe bzw. Ähnlichkeit und Distanz, sozialer Anerkennung und der Möglichkeiten altruistischen und egoistischen Handelns. Das Dritte, das in verschiedenen ‚Triaden‘ (etwa mit Bezug auf den abhängigen, den richtenden und den vermittelnden Dritten, in Bezug auf Recht und Rechtsverhältnisse, mit Blick auf Institutionen und kulturelle Werte bzw. Moral) erscheint und berücksichtigt werden muss bzw. wird, eröffnet gegenüber schon vorhandenen, oftmals problematischen Formen der Interaktion zwischen den Akteuren und insbesondere entgegen einer polarisierenden Betrachtung von Möglichkeiten weitere Perspektiven und Handlungsalternativen. Indem es gelingt, negative Reziprozität zu unterbrechen statt mit „gleicher Münze“ (in negativer Weise) zu zahlen, wird die Bereitschaft zur Beilegung von Konflikten deutlich und es werden die Möglichkeiten verbessert allgemein bindende Übereinkünfte zu treffen. Gabentausch kann also auch als im Sinne eines Herausforderns (positiver Reziprozität), des Schenkens und des wechselseitigen Versprechens und Bindens betrachtet und genutzt werden (Henaff, 2009; Bedorf, 2010, S. 178 ff). In komplexen Konfliktsituationen kann die öffentliche Darstellung des Gabentauschs die Vorbild-Funktion bestärken und zur Diskussion von Wirkungen positiver Reziprozität beitragen.
4.1 Destruktive Gewalt, reflexive Distanz und die Wiedergewinnung positiver Zukunftshoffnungen
Am Beispiel von Selbstmordattentaten lässt sich die Wirkung negativer Reziprozität sehr deutlich zeigen. Selbstmordattentäter, die nicht nur sich selbst „opfern“, sondern darüber andere Menschen in den Tod reißen (wollen), handeln oftmals innerhalb eines Kontextes von Gewalt und Gegengewalt, die sich in einem lange und länger währenden Prozess negativer und (selbst-)zerstörerischer Reziprozität immer wieder neu zu reproduzieren scheint.
Das heißt, es ist durchaus erkennbar, dass Selbstmordattentäter selbst Opfer von Gewalt sind, nicht zuerst weil sie sich selbst als Opfer (von Gewaltverhältnissen) sehen und damit Gewalt als Gegengewalt legitimieren, den eigenen Tod vielfach als Opfergabe (im religiösen Sinne) adeln wollen, sondern weil sie (die Attentäter) neben traumatisierenden eigenen Gewalterfahrungen (ganz unterschiedlicher Art) zur finalen Handlung des Selbstmordattentats (das gilt vor allem für Kinder und Jugendliche) oftmals mit Mitteln physischer und psychischer Gewalt gebracht werden (Böhm & Kaplan, 2009).
Die Fähigkeiten der Empathie, des Mitleids und Mitgefühls ermöglichen es, nicht nur alle Getöteten und die Verletzten sowie deren entsetzte und trauernde Angehörige und Freunde zu bedauern, sondern – gerade auf der Grundlage reflexiver Distanz – auch die Attentäter selbst. Distanz bzw. Distanzierungsfähigkeit sind keineswegs zu verwechseln mit Gleichgültigkeit gegenüber Leid und Leiden der Betroffenen. Auch und gerade Außenstehende, die aus reflexiver Distanz urteilen können verstehen, was Wut, Trauer und Verzweiflung, Trennung und Segregation, Demütigung, Scham und Hilflosigkeit, Irreführung, Gefühle der Schuld, von Hass und Empörung, Rachsucht oder die Entwicklung einer Opferidentität sowie Strategien der (De-)Legitimierung von Tätern mit den einzelnen Beteiligten machen und können ebenso nachvollziehen was Verzeihen, Vergebung und Versöhnung bewirken können (Bar-Tal, 1998; Staub, 2003; Ricoeur, 2004, S. 699-776).
Wichtig ist nicht nur, dass die direkt Beteiligten Formen finden, um negative Reziprozität zu unterbrechen und zu beenden. Auch nicht unmittelbar Betroffene und Außenstehende können in dieser Hinsicht Vor-Bild sein, indem sie Hass und Wut, Vergeltung und Rachsucht nicht entsprechend beantworten, schüren und verstärken, sondern selbst Verständigung vorleben und damit Verständigungsbereitschaft stärken und vorhandene Verständigungstendenzen fördern.
In diesem Sinne wirksam können vor allem die (Massen-)Medien, aber auch Institutionen der Erziehung und (politischer) Bildung sein. Insbesondere in unübersichtlichen Konfliktlagen sind sachgerechte Informationen und Vorbilder positiver Reziprozität von Bedeutung. Die Menschen können und müssen lernen, mit Gefühlen des Entsetzens, der Verzweiflung, der Scham, der Wut, der Rache und Trauer konstruktiv umgehen, um eine positive Zukunftsperspektive (wieder-) zu finden und in andauernden konflikthaften Auseinandersetzungen vernünftig im Sinne positiver Reziprozität handeln zu können. Umso bedeutsamer erscheint es, wenn den unmittelbar durch den Verlust eines geliebten Menschen, Nachbarn, Kollegen oder Freundes betroffenen Menschen ein Handeln im Sinne positiver Reziprozität und Humanität gelingt. Das folgende Beispiel handelt von Menschen, die auf ganz verschiedene Weise in den Kontext von Gewalt und Gegengewalt eingebunden waren bzw. sind und doch der (Wieder-)Gewinnung von Hoffnung für eine humane und zukunftsoffene Gesellschaft Raum geschaffen haben.
4.2 Gabentausch und die Hoffnung auf neue Möglichkeiten positiver Reziprozität
Es handelt sich einmal um das Beispiel der Eltern eines von palästinensischen Attentätern ermordeten israelischen Jugendlichen, die die eigene Community dazu aufgerufen haben, nicht in einen Zyklus von Vergeltung und Rache, sondern für Versöhnung einzutreten. Hier geht es also nicht nur um den Wunsch und Appell einen negativen Zyklus zu unterbrechen, sondern auch darum einen positiven Prozess einzuleiten.
Ein weiteres Beispiel geht darüber hinaus. Es beginnt mit der Freigabe des Herzens (Organs) (eines getöteten) israelischen Jungen zur Transplantation und der Hoffnung, dieses möge einem palästinensischen Kind das Leben retten. Die Übergabe an dessen Eltern entspricht der Negation negativer Reziprozität und erfolgt in der Hoffnung, dass diese Gabe auch angenommen werden kann und hilft; dabei sind Annahme der Gabe und Dankbarkeit keineswegs selbstverständlich vor dem Hintergrund möglicher und tatsächlicher negativer sozialer Sanktionen der eigenen Community und auch der anderen Seite. Indem die Gebenden und Nehmenden die negativen Reaktionen der jeweils eigenen Community zurückweisen bzw. zurückgewiesen haben (siehe hier auch das erste Beispiel), haben sie nicht nur die Zyklen negativer Reziprozität unterbrochen, sondern zugleich den möglichen Kreis der positiv Handelnden vergrößert insofern ihr eigenes Handeln schließlich akzeptiert wird.
In bzw. an beiden Fällen zeigt sich die humane Kraft derer, die positive Handlungen (heraus-)fordern, Möglichkeiten positiver Reziprozität nutzen und die soziale Anerkennung des jeweils Anderen und seines Handelns bewirken.
Das Herz (als „Organ“) ist hier die Gabe, die Leben retten kann und zugleich ist es Metapher (Gertenbach, 2016) für tiefe Zuneigung und Freundschaft und damit ein starkes Zeichen für die Bereitschaft zur Beendigung von tiefen gesellschaftlichen und sozialen Konflikten, die auch die Einzelnen betreffen. Dabei gehen die Akteure, die nicht nur für sich handeln, sondern immer auch für andere, durchaus soziale Risiken der Zurückweisung und Ablehnung ein. Zustimmende und ablehnende Stellungnahmen etwa dazu in der Öffentlichkeit (Presse, TV und den sozialen Medien) zeigen, dass diese bzw. entsprechende Beispiele eine große Resonanz in der Öffentlichkeit fanden und finden. Es erscheint nicht nur wichtig der medialen Präsenz von Gewalt und Terror Positives entgegensetzen zu können, sondern gerade solche Beispiele erscheinen geeignet für Unterricht und Erziehung und können dort in verschiedenen Facetten bearbeitet werden.
4.3 Gabentausch als Handeln von gesellschaftlicher Tragweite in seiner besonderen Bedeutung für Unterricht und Erziehung
Fasst man die Bedeutung des Gabentauschs zusammen, dann ist aus unserer Sicht folgendes wichtig: Geben, Nehmen und Erwidern (oder Weitergeben) als Handlungen im Zyklus des Gabentauschs können destruktiv und konstruktiv sein und zwar in dem Maße wie die Beteiligten Objekte oder Subjekte ihres und des Handelns anderer sind. Die politisch und religiös motivierte Gabe „des Märtyrers“ im oben ausgeführten Beispiel, die dieser scheinbar freiwillig gibt und dennoch darin als unfrei und objekthaft erscheint, ist destruktiv. Die Gabe des Herzens als lebenspendendes Organ und Geste der Versöhnung dagegen bestätigt die Subjekthaftigkeit der Gebenden wie der Nehmenden, der Erwidernden und Weitergebenden, indem die Beteiligten einander in ihrer Menschlichkeit und ihrem lebensbejahenden Gestaltungswillen erkennen und anerkennen. Gabe ist in diesem Zusammenhang ein zutiefst persönliches und zugleich politisches (öffentlich wirksames) Statement für die wechselseitige Anerkennung basaler Rechte und die Achtung der Menschenwürde. Geben, Nehmen und Erwidern bestätigen diese Rechte und Vorstellungen öffentlich und wechselseitig als gültig. Indem die Beteiligten beanspruchen, einander als Menschen gleich an Würde zu begegnen und mit Blick auf basale Freiheitsrechte zu handeln. Auch wenn sie sich möglicherweise nicht gleich an zugestandenen Rechten und konkreten Handlungsmöglichkeiten erfahren, können sie dennoch in wechselseitiger Anerkennung gleich allgemeine Rechte öffentlich einfordern. Grundsätzlich geht es dabei um die Betonung und Wiedergewinnung von in Konflikten und gewaltsamen Auseinandersetzungen tatsächlich oder nur scheinbar verlorengegangenen Maßstäben der Moral. Dabei wird ausdrücklich die Position eines Dritten einbezogen bzw. eingenommen, die notwendig ist, um zu höheren Stufen moralischen Urteilens im Sinne universeller Rechte und Pflichten zu kommen (zu den Stufen moralischen Urteilens: Kohlberg, 1986; Edelstein & Nunner-Winkler, 1986; Habermas, 1986). Gabentauschprozeduren allein können diese Maßstäbe zwar weder durchsetzen noch legitimieren, aber dazu betragen, diese zu thematisieren und auch im Kontext von Erziehung und Bildung müssen sie erfahren und weitergegeben werden.
5. Gabentausch als neues Paradigma für Schule, Unterricht und Lehrerbildung?
Im Laufe der letzten vier Jahrzehnte haben Schule, Unterricht und Lehrerbildung (in Deutschland) enorme Veränderungsprozesse durchlaufen, die hier nicht nachgezeichnet werden können. Soviel allerdings sollte festgehalten werden, dass Forderungen der Partizipation und Selbstbestimmung, der Demokratie und der Menschenrechte, sowie die Orientierung an Fragen der Gerechtigkeit leitend waren und neben wissenschaftlich fundierten Strategien zur Entwicklung, Etablierung und allgemeinen Durchsetzung von Qualitätsstandards fürschulisches, hochschulisches und berufliches Handeln weiterhin relevant sind. Dabei ist die Notwendigkeit der Förderung von Lernenden unter Berücksichtigung von diversity-Aspekten im Sinne eines shifts from teaching to learning (im schulischen wie im hochschulischen Unterricht) wichtiger Bestandteil von Veränderungen im sogenannten Bologna-Prozess gewesen. Dennoch zeigen Auseinandersetzungen um Ursachen, Erscheinungsweisen und Wirkungen einer weitergehenden ‚Ökonomisierung‘ aller gesellschaftlichen Teilbereiche und deren Förderung durch ein neoliberal gewendetes Wirtschafts-, Gesellschafts- und Politikverständnis, dass offenbar positive Entwicklungen in Bildung und Erziehung entsprechende Grenzen habeniii. Das heißt, es werden zunehmend marktkonforme Problemlösungen bevorzugt, neoliberale Managementstrategien an wirtschaftlichen Erfordernissen ausgerichtet und damit der Egoismus von Einzelnen und Gruppen mehr oder weniger beabsichtigt gefördert und zum Maßstab des Handelns gemacht.
Dennoch ist die Behauptung der Unmöglichkeit der Gabe (Derrida, 1993; 1994) oder die der Illusion des Gabentauschs (Bourdieu, 1998; 2006) zurückzuweisen. Mit Hinweis auf verschiedene Aspekte mitmenschlicher Beziehungen verdeutlicht Caille (2008), einer der führenden französischen Gabentauschtheoretiker, mit Blick auf die von ihm als primäre Sozialität (Nahbeziehungen wie Partnerschaft, Familie, Freundschaft, Nachbarschaft, Verein) und sekundäre Sozialität (gesellschaftliche und politische Öffentlichkeit, Institutionen und Organisationen in verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen) bezeichneten Bereiche, wie Gabentausch und Warentausch zusammengehen können. Demzufolge können sowohl egoistische als auch altruistische Aspekte im Gabentausch auf produktive Weise miteinander verknüpft werden und aus unserer Sicht insbesondere auch für Erziehungs- und Bildungsprozesse fruchtbar gemacht werden. Damit ist nicht nur gemeint, dass positive Resonanz und altruistisches Geben, Toleranz, Empathie und Compassion in sozialen Beziehungen analysiert, die Bedeutung der Gabe und des Gabentauschs in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen (Arbeit, Familie, Zivilgesellschaft) unter verschiedenen fachinhaltlichen Perspektiven thematisiert werden können, sondern dass auch verschiedene Möglichkeiten des Gabentauschs in pädagogischen bzw. erzieherischen Kontexten und auch in der Lehrerbildung selbst praktiziert und in den positiven Wirkungen reflektiert werden sollten.
Dazu sind bereits vorhandene pädagogische und erziehungswissenschaftliche Diskurse aufzugreifen, etwa zu Fragen des Umgehens mit Diversity und Heterogenität, zu Fragen der Entwicklung von interaktionellem Verstehen und moralischem Urteil, von Toleranz und sozialer Anerkennung, von Empathie und Compassion und diese mit Gabe- und Gabentauschdiskursen zusammenzubringen, die bisher in verschiedenen disziplinären Diskursarenen behandelt werden. Ziel sollte dabei sein, tragfähige (schul-)pädagogische und (hochschul-)didaktische Konzeptionen für Lehre und Unterricht zu entwickeln. Ein entsprechendes professionelles Handeln der Lehrenden in Schule und Lehrerbildung setzt eine entsprechend positive Haltung wohlwollender Wahrnehmung und Anerkennung von Ähnlichkeiten und Differenzen, von Unterschieden und Gemeinsamkeiten der Lernenden und auch der Lehrenden voraus. Erst wenn es gelingt, Differenzen und Unterschiede wechselseitig anzuerkennen und die Einzelnen in ihrer Identität positiv zu würdigen, können sich unserer Meinung nach die positiv wirksamen Potentiale der einzelnen Subjekte in Lehr-Lernzusammenhängen entfalten.
In diesem Sinne haben wir selbst verschiedene Möglichkeiten des Umgehens mit Diversity im hochschulischen Kontext thematisiert und mit Diskursen bzw. Elementen der hochschulischen Lehre, der Beratung, der Weiterbildung und Curriculumentwicklung an der Hochschule verknüpft (Szczyrba et al., 2016a). Wir haben zentrale Fragen der hochschuldidaktischen Professionalisierung im Kontext des shifts from teaching to learning (Welbers & Gaus 2005, J. Wildt 2005) erörtert sowie (hochschul-)didaktische Konzepte entwickelt, die insbesondere performative Prozesse betonen (B. Wildt et al., 2008; B. Wildt & J. Wildt, 2014), die mit Überlegungen zum Gabentausch in Verbindung gebracht werden können (zur Berücksichtigung insbesondere theatraler und künstlerischer Prozesse im Zusammenhang mit Gabentausch-Konzepten siehe Hentschel et al., 2012). Dabei werden die positiven Möglichkeiten des Gabentauschs und der Gaben als kulturelle Errungenschaften hervorgehoben und genutzt, um individuelle Entwicklungen der Subjekte in ihrer Vielfalt zu fördern und Anerkennung, Toleranz, Mitmenschlichkeit, Verantwortungsbereitschaft zu entwickeln.
Dabei haben Lehrende als professionell Tätige (ob an Schule oder Hochschule, in Weiterbildung oder Beratung) die Aufgabe, gegen scheinbar ökonomisch begründbare Verantwortungslosigkeit, gegen Tendenzen der sozialen Ausgrenzung und der Beschädigung von Menschenrechten und vorhandenen Gerechtigkeitsprinzipien, positive Alternativen und moralische Maßstäbe zu thematisieren und durchzusetzen. Dazu müssen unserer Meinung nach die elementaren egoistischen und altruistischen Fähigkeiten der Einzelnen im Handeln berücksichtigt und diese Fähigkeiten zu einer produktiven Synthese geführt werden, damit die nachwachsenden Generationen in entsprechenden Handlungsmöglichkeiten unterstützt und durch Erfolge in dieser Hinsicht bestätigt werden (können). Die Thematisierung von Prozessen des Gebens, Annehmens und Erwiderns auch in negativen Erscheinungsformen, erscheint uns in Erziehungsprozessen geboten, um einem oftmals überbordenden Egoismus entgegen zu wirken, einer kultivierten Mitleidslosigkeit und scheinbar akzeptierten Strategien der Unterdrückung und Beschämung des Anderen, der Desintegration und der Ausschließung, der Intoleranz und der Manipulation in der Gesellschaft (und auch in Kontexten der Erziehung) eindeutig entgegen treten zu können und positive Entwicklungen, insbesondere Fähigkeiten der Empathie und des Mitgefühls, der Reflexion, Kooperation und Verständigung zu nutzen und zu fördern.
Dazu brauchen auch und gerade Professionelle eine Haltung der Offenheit und zugleich die Bereitschaft Grenzen aufzuzeigen und diese zu sichern. Die Orientierung an einem Dritten (Institution, Gesellschaft, Recht und Moral) braucht dazu die Unterstützung und (Selbst-)Kontrolle der wissenschaftlichen und professionellen Community und muss selbst seitens der Institution Schule und Hochschule gestützt und gewährleistet werden (Szczyrba et al., 2016b; J. Wildt, 2013; B. Wildt 2005).
Das was in Kontexten der Erziehung gegeben, angenommen und weitergegeben wird, sind Gaben und im wirklichen Sinne Be-Gabungen, ohne die die Gesellschaft nicht auskommt. Die Bereitschaft zur Gabe und zum Gabentausch, die Anerkennung des Anderen und das Vertrauen in produktive, kreative und kooperative Lern- und Lehrprozesse kann nicht verordnet, sondern nur durch die positiven Fähigkeiten eines gebenden, nehmenden und erwidernden Gegenübers positiv gestärkt werden. Lehrende wie Lernende können von der Kraft des Gabentauschs nicht allein theoretisch-abstrakt, sondern vor allem durch konkretes Handeln und eigene Erfahrungen überzeugt werden – in dieser Kraft liegt seine paradigmatische Bedeutung!
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Über die Autoren
Beatrix Wildt: Diplom-Psychologin, Erziehungswissenschaftlerin, Studienrätin (a.D.), Tätigkeiten in Schule und Lehrerbildung (Universitäten Hamburg, Bielefeld, Oldenburg), Bereiche: allgemeine und Fachdidaktik, Professionalisierung, Beratung; hochschuldidaktische Weiterbildung und Beratung bundesweit und international. Kontakt: beatrixwildt@gmail.com
Prof. em. Dr. phil. Dr. h.c. Johannes Wildt: Diplom-Psychologe, langjähriger Direktor des Hochschuldidaktischen Zentrums der TU Dortmund, Professor an der Fakultät für Erziehungswissenschaften und Soziologie; internationale Forschungsaufträge und Gastprofessuren. Kontakt: johannes.wildt@tu- dortmund.de
Endnoten
i Der Beitrag geht auf einen Vortrag der Autoren bei der internationalen Tagung zur „Vielfalt und Demokratie – Identitätssuche in unübersichtlichen Zeiten“ an der Stiftungsuniversität Hildesheim/Deutschland (September 2016) zurück, die in Zusammenarbeit mit der „International Academy for the Humanization in Education“ (IAHE) durchgeführt wurde.
ii Ein Handeln, das voraussetzungsfrei und vorbehaltlos Gabe im Sinne von Agape ist, „Vergebung“ heißt und auf Rache „verzichtet“, verweist zudem auf ganz existentielle Zusammenhänge von Gabe und Gabentausch (Henaff, 2014, S. 167ff) die hier nicht unbeachtet bleiben sollten. Dabei geht es unter anderem darum, was als sogenannte ‚goldene Regel‘ nicht nur in der Philosophie diskutiert wird, sondern auch religionsgeschichtlich bedeutsam ist. Am zentralen Beispiel des vorliegenden Beitrags zeigen sich verschiedene Dilemmata und paradoxale Verwicklungen.
iii Eine ergänzende und erweiterte Darstellung des Gabentauschansatzes für Schule und Lehrerbildung mit kritischem Blick auf neoliberale Konzepte und ihre Auswirkungen in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen sowie Überlegungen zu Alternativen siehe (in deutscher und russischer Version): Wildt B., Wildt J. (2016): Zur Bedeutung eines Gabentauschkonzeptes für Erziehung und Lehrerbildung / Lebensbegleitendes Lernen. In: Lebensbegleitendes Lernen: „21. Jahrhundert“. Wissenschaftliche Online-Zeitschrift, Nr. 4, 2016. URL: http://lll21.petrsu.ru/journal/article_de.php?id=3324 (Abruf: 19. Januar 2017).